Digitalisierung: Beschleuniger für einen globalen Cannabis-Standard

by Lisa Haag

Spielen wir ein Gedankenspiel: Wir schreiben das Jahr 2030. Große Teile der Welt haben Cannabis zumindest zu medizinischen Zwecken legalisiert und Patienten über den Globus werden medizinisch versorgt. Hanf hat seine Rolle als Rohstoff zurückgewonnen und ist wieder Teil eines globalen Ökosystems. Auch für legales Cannabis gibt es einen Markt. Länder mit einem legalen Markt haben sich darauf geeinigt, wie sie regulieren und das Cannabis-Geschäft organisieren. In Ländern, in denen Cannabis legal angebaut und konsumiert wird, sind die Wertschöpfungsketten transparent, die Produkte sind sicher und der Schwarzmarkt hat abgenommen bzw. ist nicht mehr möglich. 

Transparenz für die Zukunft: Direct to Consumer 2.0.

So, oder so ungefähr, sieht ein mögliches Szenario aus, das Luc Richner sich für Cannabis vorstellen kann. Er ist Gründer und Geschäftsführer der Schweizer Software-Firma Vigia. Luc hat erst vor kurzem sein Masterstudiengang in Digital Leadership abgeschlossen. Seine These lag bei solchen Zukunftsszenarien, skizziert in Form einer Strategic-Foresight-Szenariobildung. Sein persönliches Utopia endet allerdings nicht bei Cannabis, für das er und sein Team gerade die SaaS-Lösung Cannavigia aufbauen. Neben Cannabis beobachtet er weitere Themen wie z.B. Palmöl, ein strukturell intransparenter Markt, in dem Produkte entlang der Wertschöpfungskette besser nachverfolgt werden sollten. Luc und seine Mitgründer Elias Galantay (links im Titelbild) und Philipp Hagenbach (rechts im Titelbild) haben eine Software entwickelt, die Unternehmen auf bürokratischer, prozesstechnischen und organisatorischer Ebene die Arbeit erleichtern soll, aber auch Transparenz, Sicherheit und Interaktion von “Seed-to-Sale” gewährleisten kann.

“Der heutige Verbraucher will mehr und mehr wissen: Was ist drin? Wo kommt es her, wie wurde es hergestellt? Wir sehen, dass dieses Bedürfnis der Endverbraucher auch bei den legalen Cannabisprodukten aus der Schweiz der Fall ist, die inzwischen ein Marktvolumen von mehrere Millionen CHF umfassen. Wir nutzen die Möglichkeiten eines digitalen Systems in Kombination mit bestehenden Standards, um Cannabis von Anbau bis zum Endkonsumenten respektive Patienten transparent und nachverfolgbar zu machen”, sagt Luc Richner: “Cannabis ist dabei nur besonders komplex und anspruchsvoll, unser Ziel ist, die Prozesse der Wertschöpfungsketten durch Digitalisierung zu vereinfachen und Schnittstellen dynamischer zu gestalten. So kann der Verbraucher praktisch vom Samen bis zum Kauf nachverfolgen, welche Schritte und Stationen das Produkt durchgemacht hat. Es bietet den Herstellern auch die Möglichkeit, mit ihren Kunden in den Dialog zu gehen. Es schafft Vertrauen und wir hoffen, dass sich das als neue Normalität durchsetzt”. 

Globale Standards als logische Konsequenz für den Verbraucherschutz

Das gläserne Cannabisunternehmen also, das Einblicke gibt in seine Prozesse und seinen Kunden Qualität verspricht. Aktuell sieht die Realität anders aus. Cannabis wird global größtenteils illegal über den Schwarzmarkt gehandelt. Legale Märkte wie wie z.B. Kanada oder Colorado sind die Ausnahme. Die THC-Höchstwerte variieren von Land zu Land bzw. von Region zu Region (z.B. EU 0,2% THC vs. Schweiz 1% THC). Nutzhanf und CBD-Hanf sind teilweise legal oder in einem halb legalen Markt organisiert. Der medizinische Markt orientiert sich an bestehenden Pharmastandards. Der gemeinsame Nenner: All diese Märkte basieren auf eine und derselben Pflanze, für die es aktuell keinen globalen Standard gibt. Ein gemeinsames Handelshemmnis, das die Pflanze jedoch über die Märkte hinweg hat, ist ihr Status – definiert als illegale Droge durch internationale Drogenabkommen.

Trotzdem sind immer mehr internationale Länder wie Kolumbien, Lesotho oder Dänemark inzwischen im Anbau medizinischen Cannabis und als Exportländer aktiv, es entstehen gerade globale Wertschöpfungsketten. Auch für Hanf öffnen sich immer neue Märkte.

Luc Richner: “Wir sehen es so, dass sich schon aus der logischen Konsequenz für den Verbraucherschutz und die Produktsicherheit globale Standards für Cannabis entwickeln werden müssen. Wie diese final aussehen kann man aktuell schwer sagen. Medizinisches Cannabis wird nach G.A.C.P.-Standard angebaut und dann entsprechend entlang der Wertschöpfungskette unter Beachtung der “Guten Praxis” sicher zum Patienten gebracht. Wir sehen ähnliche Anforderungen an den Anbau von CBD-Cannabis. Der Konsument nimmt die Produkte direkt in den Körper auf. Wir denken, dass Sicherheit einer der wichtigsten Faktoren ist. Das betrifft ein Mindestmaß an Sicherheit was z.B. Schwermetalle oder Schimmel angeht. Durch die fehlenden Standards, fehlenden Grenzwerte und die teilweise unklaren Marktbedingungen sind die Produkte auch nicht 100% sicher. Wir wollen den Kunden und Patienten genau das ermöglichen: zu verstehen, was sie zu sich nehmen, wo es herkommt und wie man damit umgeht.”

Compliance und Transparenz Software für die Europäische Cannabis Branche 

In weiter entwickelten Märkten wie Kanada oder in legalen Staaten in den USA konkurrieren in den umämpften Markt bereits einige Anbieter wie MJ Platform oder Strimo. Diese sind jedoch nicht oder aktuell nur bedingt auf den europäischen Markt vorbereitet und richten sich primär an deren Heimatmärkte und die dortigen Vorgaben. Auch diese Unternehmen müssen sich in Europa erst behaupten und die hochkomplexen Anforderungen, die mit dem Handel von Cannabis und Hanf in Europa einhergehen, verstehen. 

„Als wir angefangen haben, haben wir uns stark am Pharmastandard für medizinisches Cannabis orientiert. Wir sehen auch andere Standards, die relevant sind, wie die ISO-Norm, Lebensmittel-Standards wie FSS oder eigene Standards für CBD auf der Schweizer nationalen Ebene wie das Swiss Certified Cannabis Label der IG-Hanf in der Schweiz (SCC), oder den amerikanischen Cannabis Compliance Standards. Für uns war schnell klar, dass wir hier in Europa eine eigene Lösung brauchen, angepasst auf europäische Wertschöpfungsketten“, erklärt Richner wie es zur Software kam. „Wir haben uns intensiv mit den verschiedenen Compliance- und Sicherheitsstandards auseinandergesetzt und festgestellt: Wir stehen nicht da, wo wir stehen könnten. Warum sollte für Cannabis kein einheitlicher Standard herrschen? Und zwar der Standard, der am Ende ein sicheres und sauberes Endprodukt beim Patienten bzw. Konsumenten ankommen lässt.“

Harmonisierung? Ja, aber wann?

Langfristig scheint sich also auch hier in Europa ein milliardenschwerer Markt zu entwickeln. Im Rahmen der EU-Gesetzgebung könnte sich die Rechtslage in unterschiedlichen Ländern harmonisieren. In diese Richtung zeigen etwa das EuGH-Urteil zu Cannabidiol Anfang des Jahres sowie eine gerichtliche Entscheidung aus Frankreich, dass die Vermarktung von Cannabis sativa unabhängig vom Zustand legal sei. In der Schweiz, der Heimat von Luc Richner, sind seit CBD-Produkte seit mehreren Jahren legal. “Wir sehen an unserer CBD-Industrie vor Ort: Nach einer gewissen Zeit konsolidiert sich der Markt. Inzwischen trennen sich Spreu und Weizen.”

„Wer es schafft, mit den Vorgaben *compliant* zu sein, schafft es, sich langfristig am Markt zu halten. Für die Unternehmen ist aber nicht nur der Schweizer Markt interessant. Unsere Kunden exportieren in und importieren aus den unterschiedlichsten Ländern, auch welche, die die gleiche Definition von Hanf mit bis zu 1% wie z.B. Uruguay. Ich bin der Meinung, dass wir die Produkte möglichst regional herstellen und verkaufen sollten, dies ist jedoch nicht immer möglich oder sinnvoll, denn der Bedarf nach Cannabisprodukten steigt global. Wir sehen aktuell einen starken Zuwachs an internationalem Handel. Für mich, mit meinem Hintergrund in der Logistik, bedeutet es, dass für Cannabis mehr Warenverkehr stattfindet und möglich ist. Die Produkte kommen aus der ganzen Welt nach Europa, aber auch innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums gibt es Ländergrenzen. Aktuell ist der Markt auch noch nicht harmonisiert und für Behörden ist das Thema schwer zu handhaben. Das bedeutet somit einen hohen bürokratischen Aufwand in der Zollabwicklung, mit den Behörden und dem dazugehörigen Papierkrieg. Diese Prozesse sind weniger zeitintensiv, wenn man sie strukturiert abwickelt und transparent organisiert.“  

Vigia wählt für seine Software einen ganzheitlichen Ansatz: Bei der Entwicklung stand die Wertschöpfungskette im Vordergrund, eingebettet in ein Ökosystem und abgesichert mit einer entsprechenden Infrastruktur. Das System ist in vier Module aufgebaut 1. Anbau, 2. Manufacturing, 3. Distribution und 4. Customer Engagement. Besonders auf Schnittstellen hat das Team ein Augenmerk gelegt und arbeitet mit Cannabis erfahrenen Laboren, mit spezialisierten Dienstleistern und Experten zusammen. Ein weiteres Ziel war es, die Prozesse nicht nur für Außenstehende, sondern auch für die Firmen selbst transparent zu machen. Durch die Software können Firmen auch ihre internen Prozesse optimieren, Qualitätsstandards implementieren, Prozesslücken aufdecken und den Ertrag steigern.

Digitalisierung: Beschleuniger für einen globalen Cannabis-Standard

Schweiz: andere gesetzliche Rahmenbedingungen

„In der Schweiz sind wir mit der Gesetzeslage anders aufgestellt als in anderen Ländern, daher ist die Abgrenzung beim CBD notwendig. Auch ein Modellprojekt wird hier in naher Zukunft Realität. Wir sind in unserem Heimatmarkt an einem Punkt, an dem wir langsam eine Sättigung bzw. Überproduktion erfahren. Das ist ein Phänomen, das man auch in anderen internationalen Ländern z.B. Kanada sieht. Das Wichtigste ist, dass die Produkte für den legalen Markt erhalten bleiben, keine Manipulation stattfindet und sie Nichts an einer Stelle in den illegalen Markt verloren gehen. Wir haben inzwischen auf unserer Plattform 1.451.691 Pflanzen getrackt. Eine Software ist nicht nur für große Unternehmen eine sinnvolle Sache, wir haben auch kleine Kunden“, betont Luc Richner. „Das Grundgerüst haben wir mit einem Schweizer Bio-Hanf-Hersteller aufgesetzt. Da wir in unserem Team alle Unternehmer sind, war es uns ein wichtiges Anliegen, etwas zu entwickeln, dass auch als eine Art Management-Tool eingesetzt werden kann. Der digitale Aspekt ist dabei für uns der Schlüssel zu Transparenz, Nachverfolgbarkeit und Wirtschaftlichkeit.“ 

Digitalisierung, Blockchain, Cannabis, Mainstream?

Cannavigia setzt für die Software auf Blockchain Technologie zur Absicherung durch Timestamps und auf den globalen Barcode Standard GS1. „Wir wollten anfangs eine eigene Blockchain basierte Lösung schreiben, wobei wir dann ziemlich schnell einsehen mussten, dass das mit dem verarbeiteten Datenvolumen nicht skalierbar ist. Auf eine private Blockchain wollten wir nicht ausweichen, da das eher einer Datenbank gleichkommt und dabei den Mehrwert nicht gesehen haben. Letztlich haben wir uns bei der Entwicklung auf eine Cloud-basierte SaaS-Lösung konzentriert. Unsere Server sind dabei dreifach gebackuped und in verschiedenen Servern in der Schweiz hinterlegt. Dennoch nutzen wir für uns die Vorteile der Blockchain, denn diese bietet nützliche Möglichkeiten zur Absicherung der Lieferketten und zum Erhalt der Souveränität der Prozesse. Wir sichern die Prozesse auf drei unterschiedlichen Blockchains durch Zeitstempel. Hierdurch werden sie gewissermaßen unveränderlich, und selbst wenn dennoch eine Manipulation stattfindet, wäre die Dokumentation an einer anderen Stelle doppelt gesichert“, erklärt Richner.

Gibt es einen globalen Standard?

Medizinisches Cannabis ist noch am ehesten einheitlich standardisiert, dennoch herrscht kein globaler Standard. Auch das Internationale Narcotics Comission Board (INCB), hat sich Anfang des Jahres getroffen, um über Cannabis zu beraten – insbesondere im Bezug auf internationale Standards für die Kontrolle des Anbaus, der Herstellung und der Verwendung von Cannabis für medizinische und wissenschaftliche Zwecke. Das INCB ist ein unabhängiges, quasi-richterliches Gremium, das die Aufgabe hat, die Einhaltung der drei internationalen Drogenkontrolle Übereinkommen durch die Regierungen zu fördern und zu überwachen. Diese wurden zuletzt 2020 in Bezug auf Cannabis aktualisiert, jedoch nicht so weit, wie es möglich gewesen wäre. 

„Wir sehen langfristig eine Harmonisierung rund um Cannabis, gepaart mit dem allgemeinen Wunsch nach Transparenz in den Lieferketten von Verbraucherseite. Es ist viel Bewegung in dieser Richtung. Das gilt nicht nur an den Märkten zu Hanf, sondern auch an den aufkommenden neuen Märkten bzw. Ländern, die für sich den Anbau und die Verwendung von medizinischem Cannabis entdecken. Langfristig werden sich hieraus hoffentlich klare Rahmenbedingungen und Best Practices ergeben, die den internationalen Handel mit gewissen Produkten ermöglichen. Für unsere Software gehen wir daher davon aus, dass wir ein agiles System bauen, das die wesentlichen Aspekte und Standards abdeckt. Das tun wir, um den Unternehmen zu ermöglichen, diesen Vorgaben zu entsprechen und die Schnittstellen so zu gestaltet, dass sie das Produkt zu jedem Zeitpunkt in der Wertschöpfungskette sicher verorten. Hierdurch wird es für alle Beteiligten im Prozess transparent und nachverfolgbar. Langfristig werden nur Unternehmen in der Lage sein am Markt zu agieren, die die hohen Standards sichern, kontrollieren und einhalten“, so Richner zu den Entwicklungen am internationalen Markt.

Beschleuniger für den regulatorischen Rahmen

„Unsere Software bietet besonders für das aufstrebende europäische Cannabis System eine digitale Lösung, die für alle Beteiligten am Prozess einen Mehrwert bringt. Das wird zusätzlich wichtig, wenn die Industrie für legale Cannabisprodukte sich weiter entwickelt und die Legalisierung von Cannabis über den Globus voranschreitet. Wir sehen, dass es aktuell nicht nachhaltig ist, dass sich schnell gesättigte Einzelmärkte bilden. Der einzige Weg hieraus ist, eine globale Industrie mit Warenflüssen zu ermöglichen. Dafür benötigen wir valide Verfahren, vernünftige Standards, praxisnahe und zentrale Vorgaben – sonst wird es nicht funktionieren. Ich denke, wir sind auf einem guten Weg dahin. Digitale Tools wie unseres sind Beschleuniger, die diese Entwicklung skalieren und zentral steuerbar machen. Wir sind gespannt, wohin sich die Industrie langfristig entwickelt.“

Über Luc Richner:
Luc wurde in der Schweiz geboren, wuchs aber in Asien auf. Nach Abschluss seiner Ausbildung und seines Studiums in der Schweiz folgte Luc seiner Berufung, Unternehmer zu werden. Auf der Grundlage seiner Erfahrungen in den Bereichen Logistik und Management widmete sich Luc in seinem ersten Unternehmen dem Upcycling gebrauchter Materialien zu hochwertigen Möbeln und Dekorationsartikeln. In den folgenden Jahren wagte er sich in die globale Logistikbranche vor, gründete ein Beratungsunternehmen, das Welten miteinander verbindet, und gründete ein einzigartiges, lokales und nachhaltiges Farm-to-Table-Restaurant in Bali, Indonesien. Zurzeit ist Luc einer der wenigen Absolventen der Pionierklasse für den Executive MBA in Digital Leadership an der HWZ Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Business Administration. Er ist Gründer und Geschäftsführer der Schweizer Vigia AG.

Mehr zum Thema

Leave a Comment