Warum wir Cannabis als Medizin sinnvoll regulieren müssen

by Lisa Haag

Ein Plädoyer einer Fachexpertin gegen Rückschritte, für Realitätssinn und echte Versorgungsgerechtigkeit

Am 19. Juni 2025 habe ich ein Panel mit dem Titel Blurred Lines moderiert. Es ging um die verschwimmenden Grenzen zwischen medizinischer Anwendung, Regulierung und Popkultur rund um Cannabis. Diese Diskussion hat mir erneut sehr deutlich gemacht, wie dringend wir in Deutschland eine andere Form der Auseinandersetzung mit diesem Thema brauchen. Und sie hat in mir etwas ausgelöst: Ich habe beschlossen, dass ich meine Gedanken zu diesen Fragen nicht länger nur nach innen richten möchte – nicht nur in Panels, nicht nur im Gespräch mit Fachleuten. Ich möchte sie öffentlich teilen. Weil ich glaube, dass wir in einer Zeit angekommen sind, in der man nicht mehr alles schweigend hinnehmen kann. Es ist schlicht nicht mehr auszuhalten, was hier gerade passiert.

Wir beschweren uns über Disruptoren. Wir zeigen auf Anbieter, die das System aufweichen, die mit neuen Modellen den Zugang zu Cannabis verändern. Aber anstatt das System zu verbessern, anstatt strukturell daran zu arbeiten, wie Versorgung gelingen kann, wird jetzt der Rückwärtsgang eingelegt. Wir diskutieren über neue Verbote, über Einschränkungen, über Rücküberführungen ins Betäubungsmittelgesetz. Und damit machen wir uns wieder angreifbar – nicht als Branche, sondern als Gesellschaft. Denn wenn dieser Zugang erneut eingeschränkt wird, dann kann ich versprechen: Es wird Gegenwehr geben. Vielleicht nicht sofort, aber unausweichlich. Weil es nicht um Luxus geht. Es geht um Versorgung, um das Recht auf gesundheitliche Selbstbestimmung, um reale Bedürfnisse.

Gesundheitsschutz kann nicht durch Rückabwicklung gelingen

Die Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Gesundheit der Länder halten es laut GMK-Beschluss für erforderlich, das Medizinal-Cannabisgesetz zu ändern. Begründet wird dies mit einer massiven Zunahme ärztlicher Online-Verschreibungen ohne vorherige persönliche Konsultation, seit Cannabis nicht mehr unter das Betäubungsmittelgesetz fällt. Doch hier beginnt das Problem: Wo sonst, außer bei Cannabis, greifen wir in dieser Schärfe durch? Welche anderen Arzneimittel oder Therapieformen mit vergleichbaren Herausforderungen werden derart politisch isoliert behandelt? Wir wissen längst, dass es auch bei anderen verschreibungspflichtigen Substanzen Spannungsfelder gibt – etwa bei Schlafmitteln, Benzodiazepinen oder Hormonen. Wird da auch das Verschreibungsrecht eingeschränkt? Natürlich nicht. Also warum bei Cannabis?

Die angedachte Rückführung von Blüten ins BtMG ist fachlich unbegründet – und politisch fatal

Der Vorschlag, Cannabisblüten wieder ins Betäubungsmittelgesetz aufzunehmen, ist in mehrfacher Hinsicht absurd. Ärztinnen und Ärzte würden dadurch nicht nur massiv benachteiligt, sondern erneut kriminalisiert. Patienten würden in ein Systemzurückgeworfen, das längst als veraltet erkannt wurde. Und gleichzeitig öffnet man durch nationale Restriktionen die Tür für Umgehungsstrategien: Stichwort EU-Verschreibung. Schon heute sehen wir, dass Apotheken aus den Niederlanden, aus Tschechien oder aus Malta den deutschen Markt bedienen. Wenn Deutschland die Bedingungen verschärft, werden genau diese Wege stärker genutzt. Das passiert auch bereits bei anderen Präparaten, bei Schilddrüsenhormonen oder bei bestimmten hormonellen Therapien, die hierzulande schwer zu bekommen sind, aber im EU-Ausland rezeptfrei oder über einfache Fernrezepte verfügbar bleiben. Wir drohen also, ein System zu schwächen, das bereits unter Druck steht – und treiben gleichzeitig eine neue Form von Versorgungsimport an. Das ist wirtschaftlich und versorgungspolitisch unverantwortlich. Es ist auch nicht vereinbar mit dem Ziel, eine funktionierende, verlässliche und sichere medizinische Cannabisversorgung in Deutschland zu etablieren.

Was Telemedizin braucht: klare Regeln, nicht pauschales Misstrauen

Die Forderung nach Leitplanken für Telemedizin ist grundsätzlich richtig. Natürlich braucht es Regeln. Aber warum fangen wir nicht damit an, dass die bestehende Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) korrekt angewendet wird? Warum schauen wir nicht darauf, dass Leistungen auch tatsächlich abgerechnet und dokumentiert werden, wie es das Gesetz längst vorsieht? Warum etablieren wir keine verpflichtenden Standards für Anamnese, für Indikationsprüfung, für Aufklärung?

Stattdessen wird mit Formulierungen wie „Verschreibungen gegen Entgelt ohne angemessene Beratung“ gearbeitet. Das ist polemisch und pauschalisierend. Die Mehrheit der telemedizinisch tätigen Ärztinnen arbeitet rechtskonform und mit ärztlicher Sorgfalt. Warum also nicht die Fälle, in denen das nicht geschieht, gezielt kontrollieren und ahnden – statt den ganzen Versorgungsweg zu delegitimieren? Es ist auch deshalb so perfide, weil gleichzeitig in der Fläche immer weniger Ärztinnen bereit sind, überhaupt Cannabis zu verordnen. Das weiß jeder, der versucht hat, ein Kassenrezept zu bekommen. Die Telemedizin füllt hier eine Lücke. Sie ist kein Problem, sie ist ein Teil der Lösung.

Versorgung muss strukturell gedacht werden – nicht ideologisch

Viele Patientinnen fallen durchs Raster. Weil sie keine Ärztin finden. Weil sie sich private Versorgungsmodelle nicht leisten können. Weil sie in ländlichen Regionen leben oder einfach nicht genug wissen, um sich durch das Dickicht an Regelungen zu kämpfen. Und sie sind es, über die wir eigentlich reden müssten. Denn sie sind nicht das Problem, sondern die Leidtragenden eines Systems, das sich zu oft um sich selbst dreht, statt um die, die es versorgen soll. Es darf nicht sein, dass Menschen, die auf Cannabis angewiesen sind – zur Schmerztherapie, zur Spastikbehandlung, zur Lebensqualitätserhaltung –, auf einen rechtlichen Schwebezustand zurückgeworfen werden. Wir reden über Grundrechte. Über das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Über das Recht auf die bestmögliche Versorgung. Und die darf nicht von politischen Ängsten abhängig gemacht werden.

Wettbewerbsverzerrung und politische Untätigkeit verschärfen das Problem

Was die Branche seit Jahren erlebt, ist eine massive Wettbewerbsverzerrung. Je nachdem, wo ein Unternehmen sitzt, wie ein Landesamt entscheidet oder wie einzelne Gesundheitsämter agieren, gelten völlig unterschiedliche Spielregeln. Das schafft Unsicherheit, zerstört Vertrauen und hemmt Innovation. Was wir brauchen, ist nicht noch mehr Regulierung an der falschen Stelle – sondern eine Harmonisierung der bestehenden Vorgaben. Gleiche Spielregeln für alle. Klare Leitlinien für Anbieter. Einheitliche Anforderungen für Werberegulierung, Packungsbeilagen, Dosierungsempfehlungen, Begleiterhebung.

Denn solange all das fehlt, entstehen Grauzonen. Und solange diese Grauzonen existieren, wird es Anbieter geben, die sie nutzen. Und Patientinnen, die genau dort hinwandern. Nicht weil sie unvernünftig sind, sondern weil sie keine Alternative haben.

Was wir brauchen, ist ein realistischer und humaner Umgang mit Cannabis

Die Debatte rund um Cannabis ist nicht gefährlich, weil Cannabis gefährlich wäre. Sie ist gefährlich, weil sie von Angst und Unkenntnis getrieben ist. Weil sie nicht von Versorgung aus gedacht wird, sondern von Kontrolle. Weil sie nicht darauf zielt, Menschen zu begleiten, sondern zu begrenzen. Cannabis gehört längst zur Realität unserer Gesundheitsversorgung. Es ist keine Randerscheinung, keine Mode, kein Tabubruch. Es ist eine anerkannte, evidenzgestützte Therapieoption. Und so muss es auch behandelt werden. Wer das wieder zurückdrehen will, stellt sich nicht nur gegen den Zeitgeist. Er stellt sich gegen die Realität der Menschen.

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