Neues Standbein: Pharmafirma Ethypharm setzt in Europa auf Cannabismedizin

by Lisa Haag

Ein Interview mit Jean Monin und Ruud Helwig von Ethypharm zu Cannabis als Medizin in Deutschland und Frankreich.

Mit Ethypharm betritt ein weiterer Player aus dem Feld der konventionellen Pharmafirmen den Markt für medizinisches Cannabis. Das in Europa ansässige, aber weltweit tätige Spezialpharma-Unternehmen, ist auf die Bereiche Schmerz- und Suchttherapie sowie Intensivmedizin spezialisiert. Das Unternehmen hat 2020 nach eigenen Angaben 357 Millionen Euro Umsatz (netto) erwirtschaftet, rund 50 % davon betreffen das Zentrale Nervensystem (Schmerz, Sucht, Epilepsie) und rund 11 % Intensivpflege (Notfall und Intensivmedizin). Darüber hinaus gibt Ethypharm an, „unentbehrliche Medizin sowie komplexe Generika“ zu entwickeln und zu vertreiben, die die Gesundheitskosten reduzieren und Patienten auf der ganzen Welt Zugang zu preiswerten Therapien ermöglichen.

Ethypharm verfügt bereits über eigene Vertriebsstrukturen in Europa, die man kontinuierlich weiterentwickelt, ebenso wie über ein bewährtes Netzwerk an Partnern. Im Fall von Cannabis arbeitet Ethypharm in Frankreich mit der Berliner Niederlassung von Aurora und in Deutschland mit der kolumbianischen Firma Clever Leaves zusammen. In einer vorausgegangenen Pressemitteilung kommentiert Kyle Detwiler, CEO von Clever Leaves: „Sich mit einem etablierten pharmazeutischen Unternehmen wie Ethypharm zusammenzuschließen ermöglicht Clever Leaves außerdem einen weit aufgestellten Zutritt zum deutschen pharmazeutischen Markt, welcher aktuell als einer der wichtigsten internationalen Märkte für medizinisches Cannabis angesehen wird – aufgrund seiner Größe, Wachstumsgeschwindigkeit und Deutschlands klinischer Glaubwürdigkeit -, um den Weg hin zu weiteren europäischen oder internationalen pharmazeutischen Märkten zu bahnen.“

Bereits auf einer virtuellen Pressekonferenz Ende Juni – an der auch unsere Redaktion teilgenommen hat -, betonte Ruud Helwig, SVP Commercial Operations Europe, MEA & APAC und Managing Director Deutschland, dass Ethypharm mit seiner bestehenden Expertise in bestimmten Indikationen medizinische Cannabisprodukte in sein Sortiment aufnimmt und die Wirksamkeit und Sicherheit für sowie die Lebensqualität von Schmerzpatienten zu verbessern. Auch für die multimodale Schmerzbehandlung sei Cannabis interessant und auch allgemein, um die Belastung durch andere Medikamente, beispielsweise durch Opiate, zu senken und die Lebensqualität zu verbessern. Einen besonderen Wert lege man darauf, neue Standards zu setzen sowie Fachkreise und Patienten zu unterstützen.

Barbara Lindberg, Medical Marketing Director bei Ethypharm, stellt in der Pressekonferenz die Bedeutung der Digitalisierung heraus. So arbeitet Ethypharm schon mit GAIA AG, einem integrierten digitalen Versorgungsprogramm für die Bereiche psychische Erkrankungen, Immunologie und Rückenschmerzen. Weitere Maßnahmen seien geplant. Zur Markteinführung sollen entsprechende Fachinformationen hinter einem DOCCHECK-Zugang verfügbar sein. Auch über die Ethypharm Academy sollen Veranstaltungen zu Cannabis als Medizin stattfinden, besonders mit Hinblick auf praxisrelevante Informationen für Ärzte, Apotheker und PTA.

Ende des Jahres ist eine weitere Pressekonferenz speziell für Cannabis relevante Themen geplant. Uns gegenüber hat Ethypharm aber jetzt schon zu zentralen Fragen Stellung bezogen. In diesem Interview stehen uns Jean Monin (Foto Titel links), Chief Commercial Operations Officer von Ethypharm, und Ruud Helwig, SVP Commercial Operations Europe, MEA & APAC und Managing Director Deutschland, Frage und Antwort zu den Zukunftsplänen von Ethypharm in Cannabis, Deutschland und darüber hinaus.

krautinvest.de: Warum hat sich Ethypharm dazu entschieden, Cannabis bzw. Cannabinoide ins Portfolio aufzunehmen?

Jean Monin: Medizinisches Cannabis ist ein neuer Markt, der sich gerade erst entwickelt und der zudem viel Potenzial hat, was auch die vielen Marktuntersuchungen unterstreichen, die gerade auch in letzter Zeit erschienen sind. Zudem sind uns in unserer langjährigen Unterstützung von Ärzten und Patienten immer wieder Ansätze der Verwendung von Cannabis als Medikament während der Schmerztherapie begegnet. Medizinisches Cannabis adressiert einen ungedeckten medizinischen Bedarf für Patienten ohne Alternativen und hat einige klinische Beweise bei der Linderung von chronischen und neuropathischen Schmerzen und anderen Indikationen wie Spastizität, palliativen Situationen sowie Epilepsie, die refraktär gegenüber aktuellen Behandlungen ist, gezeigt. Diese Faktoren haben den Anstoß gegeben, diesen Markt konkreter ins Auge zu fassen. 

Als wir mit Clever Leaves ins Gespräch kamen, haben wir die Gelegenheit ergriffen, eine Partnerschaft aufzubauen und zusammen die ersten Produkte zu entwickeln, die wir im Spätherbst dieses Jahres launchen werden. Zusammenarbeit und Partnerschaften sind Teil der DNA von Ethypharm.

Wir haben nun das Ziel, ein führender und vertrauenswürdiger Anbieter von medizinischen Cannabisprodukten in Europa zu werden. Medizinisches Cannabis gehört zur strategischen Entwicklung und zum Wachstums von Ethypharm.

krautinvest.de: Welche Ziele hat sich Ethypharm für Cannabis in der Medizin gesetzt?

Ruud Helwig: Im ersten Schritt die ersten Produkte launchen, den Markt erleben und immer besser verstehen, natürlich erfolgreich sein und gemäß unserer Unternehmensphilosophie für Ärzte, Patienten und Apotheker der bestmögliche Partner sein und vor allem den Unterschied machen für das Leben der Patienten. Wir wollen mit medizinischem Cannabis die Lebensqualität von Schmerzpatienten weiter verbessern. Unser wirtschaftliches Ziel ist es, ein führender und vertrauenswürdiger Lieferant von medizinischem Cannabis in Deutschland zu werden. 

krautinvest.de: Gibt es Schwerpunkte in Indikationen oder Therapie, die Ethypharm gesetzt hat? Inwiefern spiegeln diese Indikationen die bestehenden Erfahrungen von Ethypharm als pharmazeutisches Unternehmen wider?

Ruud Helwig: Unser Hauptfokus als Spezialpharmaunternehmen ist das Zentrale Nervensystems (ZNS), also besonders Indikationen in den Bereichen Schmerz, Epilepsie und Sucht. Im Bereich Schmerz, in dem wir über ein anerkanntes langjähriges Know-how verfügen, hat sich die Verwendung von medizinischem Cannabis bereits bewährt und wird von immer mehr Ärzten und Schmerztherapeuten eingesetzt. Daher werden wir uns für den Produktstart auf die Behandlung von Schmerzen konzentrieren. 

krautinvest.de: Welche Produkte wird das Ethypharm-Portfolio umfassen? Inwiefern unterscheiden sich diese Produkte von anderen Produkten am Markt? Planen Sie langfristig die Entwicklung von Fertigarzneimitteln auf Cannabinoid-Basis? 

Ruud Helwig: Wir werden mit den Extrakten THC, CBD und THC-CBD starten und nächstes Jahr vermutlich auch Cannabisblüten anbieten. Die Produkte werden sich vielleicht nicht generell von anderen unterscheiden, aber Ärzte, Apotheker und Patienten können bei uns davon ausgehen, dass sie GACP- und EU-GMP-zertifizierte Produkte in höchster Qualität bekommen, auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Informationsmaterialien, passende Fortbildungsangebote sowie unsere hohe ZNS-Kompetenz. Die Entwicklung von weiteren Arzneimitteln auf Cannabis-Basis ist denkbar, aber jetzt geht es uns erst einmal darum, in dem Markt Fuß zu fassen, und dann sehen wir weiter.

krautinvest.de: Wir sehen große Herausforderungen im Markt: stagnierende Patientenzahlen, wenige Ärzte, die bereit sind Cannabis zu verordnen, sowie hohe bürokratische Hürden durch den Genehmigungsvorbehalt. Wo sieht Ethypharm die größten Herausforderungen für Cannabinoide in der Therapie? Wie gehen Sie mit diesen Herausforderungen um bzw. wo sehen Sie mögliche Ansätze?

Ruud Helwig: Es ist ein junger Markt, der noch durch die jahrzehntelange Definition von Cannabis als Sucht- und Rauschmittel geprägt ist. Jeder, der sich in diesem Markt engagiert, ist ein Pionier. Das gilt für Ärzte und Professoren wie für Patienten und Unternehmen gleichermaßen. Aber das ändert sich bereits. Der Umgang mit medizinischem Cannabis ist in Deutschland absolut seriös, immer mehr Kongresse (in den Bereichen Schmerz als auch Cannabis) behandeln das Thema, die Fortbildungsangebote nehmen zu, mehr und mehr Ärzte interessieren sich für die therapeutischen Möglichkeiten. Dieser Prozess ist angelaufen und wird dazu führen, dass medizinisches Cannabis eine immer größere Rolle spielen wird. Wir werden ihn bestmöglich unterstützen und sind, was die weitere Entwicklung angeht, gelassen.    

krautinvest.de: Wie werden die Produkte in Deutschland vertrieben? Welche Rolle spielt dabei die Partnerschaft mit Clever Leaves in Deutschland?

Jean Monin: Clever Leaves ist eine exklusive Partnerschaft für medizinisches Cannabis in Deutschland, mit der wir sehr zufrieden sind. Darum freuen wir uns auch auf den Moment, wenn es endlich losgehen wird. Vertrieb und Marketing in Deutschland erfolgen durch uns und über die üblichen Kanäle. 

krautinvest.de: Welche Maßnahmen planen Sie für die Aus- und Weiterbildung von Fachkreisen? Welche Rolle spielt dabei Digitalisierung?

Ruud Helwig: Wir haben vor wenigen Monaten die Ethypharm Akademie ins Leben gerufen und bieten schon jetzt Seminare für Apotheker an. Dieses Angebot möchten wir in den nächsten Monaten ausbauen. Zusätzlich arbeiten wir mit Experten zusammen an guten Informationsmaterialien. Digitale Fortbildungsangebote sind selbstverständlich. Generell sind für uns alle digitalen Formen der Kollaboration (Konferenzen, Fortbildungen, Meetings, Arbeitsbesprechungen) ein ganz normaler Bestandteil der tagtäglichen Arbeit. 

krautinvest.de: Ethypharm ist in Frankreich am Modellprojekt beteiligt. Können Sie uns etwas dazu sagen? Gibt es weitere Märkte, in denen Sie aktiv sind?

Jean Monin: Mit medizinischem Cannabis sind wir bislang nur in Frankreich und Deutschland aktiv. In Frankreich gibt es eine Partnerschaft mit dem Berliner Unternehmen Aurora. Aber die aktuelle Situation in Frankreich unterscheidet sich von der Situation in Deutschland. Cannabis ist in Frankreich als Betäubungsmittel eingestuft. Die französischen Vorschriften sehen vor, dass alle Handlungen mit Cannabis verboten sind, insbesondere die Herstellung, der Besitz, die Einfuhr, die Ausfuhr und der Konsum.  Die französische Gesundheitsbehörde (Nationale Agentur für die Sicherheit von Arzneimitteln und Gesundheitsprodukten – ANSM) hat jedoch beschlossen, ein zweijähriges Pilotprogramm durchzuführen, um die Grundlagen für einen zukünftigen regulierten Markt für medizinisches Cannabis zu schaffen. 

Ethypharm und Aurora gehören zu den sechs ausgewählten Hersteller-Vertriebspartner-Beziehungen, die Patienten und medizinischem Fachpersonal kostenlos hochwertiges und vertrauenswürdiges medizinisches Cannabis zur Verfügung stellen dürfen. Aurora und Ethypharm unterzeichneten im Oktober 2020 eine Partnerschaftsvereinbarung, um am französischen Pilotprogramm teilzunehmen und die Expertise beider Unternehmen zu nutzen. 

Im Rahmen der exklusiven Partnerschaft wird Aurora in Europa angebautes medizinisches Cannabis, das nach den europäischen Good Manufacturing Practices (GMP) zertifiziert ist, direkt aus Auroras größter Gewächshausproduktion auf europäischem Boden, Aurora Nordic, in Odense, Dänemark, liefern. 

Aurora wird zudem den regelmäßigen Austausch mit der ANSM sicherstellen. Ethypharm wiederum ist in dieser Partnerschaft für den kostenlosen Transfer, die Information, die Pharmakovigilanz, den Vertrieb (Bestellung, Import, Lagerverwaltung etc.), die Verfolgung der Chargen, deren Rücknahme usw. zuständig. Die Kombination der Fähigkeiten von Ethypharm mit den Cannabisprodukten von Aurora in pharmazeutischer Qualität ist unserer Ansicht nach der richtige Ansatz, um langfristig Vertrauen in medizinisches Cannabis aufzubauen.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel wurde redaktionell überarbeitet. Im Artikel stand „Berliner Unternehmen Aurora“. Aurora ist jedoch ein kanadisches Unternehmen mit einer in Berlin eingetragenen Tochtergesellschaft. Dies wurde entsprechend korrigiert.

Über Jean Monin:
Jean Monin kam 2019 als Chief Commercial Operations Officer zu Ethypharm. Jean Monin, 54, ist Pharmazeut und Absolvent der ESSEC Business School. Er verfügt über einen soliden Hintergrund in der pharmazeutischen Industrie mit über 25 Jahren Erfahrung, davon 12 Jahre im Ausland. Er begann seine Karriere als Medical Information Officer bei Rhône Poulenc in Australien und entwickelte dann im Laufe der Zeit seine Managementfähigkeiten in immer komplexeren Funktionen, vor allem in den Marketing- und Vertriebsabteilungen von Aventis Frankreich und Sanofi Spanien, bevor er 2007 zum General Manager von Sanofi in Norwegen und anschließend in Belgien und Luxemburg ernannt wurde.  2010 verließ er Europa, um die Position des General Managers der Sanofi-Niederlassung in Australien & Neuseeland zu übernehmen. 2012 wechselte Jean in den Bereich “Biotechs”. Er wechselte zu Amgen und übernahm als Vice-President General Manager von Amgen France die Leitung der größten europäischen Tochtergesellschaft des Konzerns. Bertrand Deluard – CEO der Gruppe Ethypharm – kommentiert: “Jeans Führungsqualitäten, seine internationale Erfahrung und seine Marktkenntnis werden Ethypharm sehr helfen, seine ehrgeizigen Entwicklungsziele zu erreichen. Seine Expertise wird ein wichtiger Aktivposten sein, um die hohe Leistungsfähigkeit unserer kommerziellen Operationen in Europa und auf der ganzen Welt zu garantieren. Im Hinblick auf die Transformation wird Jean gerne dabei helfen, die Strategie der Gruppe umzusetzen, unsere Partnerschaften auszubauen, unsere Wachstumsplattformen zu stärken und die erfolgreiche Markteinführung unserer zukünftigen Produkte in den Bereichen Schmerz, Sucht und Intensivmedizin zu unterstützen.

Über Ruud Helwig:
Ruud Helwig ist seit 2017 Geschäftsführer von Ethypharm Deutschland sowie Senior Vice President Commercial Operations Europe, MEA & APAC. Zuvor war er Geschäftsführer von Unternehmen wie der Symbion KG in Österreich, der Ayrton Saunders Ltd in UK und der Pharmont Ltd., General Manager bei Mallinckrodt Pharmaceuticals, Commercial Director Europe at Aspen Pharma Trading Ltd., Vice President International Operations at Sciele Pharma, Vice President Japan Operations at St. Jude Medical and General Manager China at Eli Lilly and Company. Zudem sind er im Aufsichtsrat von Orfe und SymPhar Sp.z o.o. Studiert hat Ruud Helwig Business & Law an der IMADEC University.

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