2023: “Achterbahnfahrt” und “intensives Jahr” für die Cannabis-Industrie

by Moritz Förster

Vor einem Jahr hoffte die Cannabis-Industrie auf eine vollumfänglich legalisierte Wertschöpfungskette. Doch dann schmiss das Gesundheitsministerium mit dem zweiten Eckpunktepapier im April 2023 den ursprünglichen Plan über den Haufen: nicht-kommerzielle Clubs und privater Anbau statt einer unternehmerisch organisierten Wertschöpfungskette. Und dann platzten im November und Dezember zwei Lesungen, in denen das CanG final verabschiedet werden sollte. Die SPD-Fraktion peilt nun einen Termin Anfang 2024 an. Entsprechend bewertet ein Fünftel der Teilnehmenden einer Linkedin-Umfrage 2023 als “sehr schlecht”. Und das, obwohl die Bundesregierung kontinuierlich an einer Sache festgehalten hat: Cannabis soll nach in Kraft treten des CanG nicht mehr als Betäubungsmittel gelten. Die Industrie erwartet stark steigende Patient:innen-Zahlen. Zudem fehlt nur noch ein letzter Schritt, bis das Gesetz verabschiedet ist. Vielleicht blicken genau deswegen in der Linkedin-Umfrage auch 44% der Teilnehmenden positiv auf 2023 zurück?

Rechtsanwalt Kai-Friedrich Niermann bezeichnet 2023 entsprechend als “Achterbahnfahrt”: “Das vorgeschlagene 2-Säulenmodell war dann schon eine herbe Enttäuschung, die dann vom überregulierten und äußerst prohibitiven Kabinettsentwurf im August noch übertroffen wurde.” Ein Dorn im Auge ist Niermann, dass nicht einmal die Rauschklausel, “wie schon lange von führenden Toxikologen vorgeschlagen”, gestrichen worden sei.

Laut Dentons-Partner Peter Homberg war 2023 “intensiv, insbesondere für die europäische Cannabis-Industrie”. Weltweit würden sich “die Rahmenbedingungen für medizinisches Cannabis verbessern”, sich auch immer mehr Länder “Cannabis für Genusszwecke öffnen”. In Deutschland sei die “die Legalisierung von Cannabis zu Genusszwecken so konkret wie noch nie”. Homberg mahnt im gleichen Atemzug: “Nach wie vor stellen sich viele rechtliche und politische Fragen, die es zu beantworten gilt.” Vor diesem Hintergrund legt Sascha Mielcarek, Geschäftsführer von Canify, den Finger in die Wunde: “Es ist ernüchternd, dass sich die Änderung der gesetzlichen Rahmenbedingungen so lange hinzieht. Für die Cannabis-Industrie bedeutet das anhaltende Rechtsunsicherheit, die eine vorausschauende Planung in vielen Bereichen schwierig gestaltet.”

Medizinisches Cannabis

Unter den 72 Teilnehmenden der bereits genannten Umfrage bezeichnen elf Prozent 2023 als sehr gut, 33 Prozent als gut. Demgegenüber stehen 35 Prozent, die das Jahr als schlecht, und 21 Prozent, die es als sehr schlecht einordnen. Dennoch melden sich auch positiv gestimmte Gründer zu Wort: Cannamedicals David Henn spricht beispielsweise mit Verweis auf das eigene Unternehmen von “kontinuierlichem Wachstum und Innovation”, verweist auf 16 neue Blütensorten und zwölf neu Vollspektrum-Extrakte. Niklas Kouparanis von der Bloomwell Group betont den deutlich geringeren Aufwand und weniger erforderliche Ressourcen, sobald medizinisches Cannabis nicht mehr als Betäubungsmittel gilt und geht von einer rasch steigenden Anzahl an Cannabis-Patient:innen aus. Cansativas Benedikt Sons hofft durch die Reklassifizierung auf einen Paradigmenwechsel mit breiterer Akzeptanz und weniger Stigmatisierung für Patient:innen. Nach eigenen Angaben konnte Cansativa den Umsatz 2023 auf fast 20 Millionen Euro steigern. Demecan-Geschäftsführer Jörg Sellmann hebt hervor, dass das Unternehmen mit den “GMP-Services” einen neune Geschäftsbereich aufbauen konnte und die Blüte Demecan Typ 1 “mittlerweile wohl die am meisten nachgefragte Sorte in Deutschland” sei. Ein „Lowlight“ war Sellmann zu Folge insbesondere die “Überlieferung des Marktes mit Blüten”. Sanity-Group-Gründer Finn Hänsel hebt zudem die “G-BA-Neuregelungen zu Medizinalcannabis” hervor, die seines Erachtens aber nach wie vor “Anpassungen” benötigen. Wir erinnern uns: Anfang 2023 hatte der G-BA durch einen Vorstoß die ganze Branche verunsichert. Im Worst-Case hätten Hausärztinnen und -ärzte nur noch in Ausnahmefällen verordnen dürfen, der Genehmigungsvorbehalt der Kassen wäre noch restriktiver geworden. Das hätte den Todesstoß für etliche Unternehmen bedeutet und einem Großteil der Patient:innen wäre der Zugang zur Therapie verwehrt worden. So kam es schlussendlich nicht.

Globale Trends

Michael Sassano, Geschäftsführer von Somaí, verweist auf weltweit positive Entwicklungen in Japan, Thailand, Israel, der Ukraine, Albanien, Luxemburg, Brasilien und weiteren Ländern. Und obwohl die M&A-Aktivitäten abgeflacht seien, hätten die Top-Firmen immer noch Kapital einsammeln können, weltweit seien die Cannabis-Verkäufe gestiegen. Timo Bongartz, der im Laufe des Jahres von Fluence zu Cannaviagia gewechselt war, hebt insbesondere hervor, dass sich Polen zu einem der größten Absatzmärkte für medizinischen Cannabis in Europa entwickelt habe. Bongartz kritisiert aber auch, dass illegales, altes Cannabis aus Kalifornien und Kanada auf globalen, illegalen Märkten verfügbar sei und so das gesunde, lokale Cannabis-Business zerstöre.

Cannabis-Clubs

Auch wenn der Bundestag das CanG, und damit die finalen Rahmenbedingungen für die Clubs, noch nicht final verabschiedet hat, haben sich 2023 bereits die ersten Dienstleister in Stellung gebracht: 420cloud verkündet ein “Jahr des Fortschritts”. Das Unternehmen habe sich als “erster Anbieter digitaler Verwaltungssoftware für Anbauvereinigungen etabliert”.

Pilotprojekte

Während in Deutschland noch völlig unklar ist, wie durch Säule zwei regulierten Pilotprojekte aussehen werden und ob sie überhaupt anlaufen, ist die Schweiz bereits deutlich weiter. Mittendrin auch die Sanity Group. Die Eröffnung “unseres Cannabis-Fachgeschäfts in der Schweiz, dem ersten legalen Cannabis-Fachgeschäft in Europa” sei laut Hänsel ein wichtiger Meilenstein für das Unternehmen gewesen. Er hofft auch auf eine Signalwirkung für Deutschland. Timo Bongartz bezeichnet die Schweiz als Vorreiter darin, “Freizeit-Cannabis zu erproben und wissenschaftlich zu begleiten” und freut sich in diesem Zusammenhang auch darüber, dass das “Wietexperiment in den Niederlanden tatsächlich anfängt”.

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