Konsumkompetenz und Drogenmündigkeit durch Ausgrenzung von Kiffern?

Soziologin Prof. Dr. Gundula Barsch gibt Denkanstöße zum Thema Suchtprävention und Risikominimierung

by Astrid Hahner

Die geplante Cannabis-Legalisierung einschließlich der Kampagne “Cannabis legal, aber…” folgt dem grundsätzlichen Eingeständnis der Politik, dass Cannabiskonsum eine nicht zu verdrängende Realität in allen gesellschaftlichen Schichten ist und setzt statt Totalverbot nun auf  Risikominimierung und Jugendschutz. Diese Ziele sollen vor allem dadurch erreicht werden, indem das Kraut mitsamt den Konsumenten, ja sogar Patienten, möglichst unsichtbar bleibt und so “keine neuen Konsumanreize geschaffen” würden, vor allem natürlich für Kinder und Jugendliche.

Einen langen Strafkatalog und quasi staatlich verordnete Entzugstherapie bei Nicht-Beachtung von Einschränkungen, wie z.B. inhalativer Konsum in der Öffentlichkeit, das Verschenken von eigens angebautem Gras an erwachsene Nachbarn, oder das Behalten von mehr als 25g desselben, sind im Gesetzesentwurf vorgesehen. Währenddessen bleiben Orte des gemeinschaftlichen Exzesses wie z.B. das Oktoberfest, die Zeltkirmes, das Weinfest oder der Glühweinstand am Weihnachtsmarkt übrigens gesellschaftlich akzeptierte, zum Kulturgut hochstilisierte Familienausflugsziele in Deutschland – mit Zuckerwatte und Kinderkarussell.  Wir haben dies zum Anlass genommen, die Soziologin und Expertin für Drogenarbeit, Frau Prof. Dr. Gundula Barsch zu bitten, das sogenannte Mündigkeitskonzept zur Risikominimierung und Suchtprävention zu erklären.

In Kürze: Das Mündigkeitskonzept plädiert dafür, den emanzipierten und unproblematischen Umgang mit psychoaktiven Substanzen zum Ziel aller Präventionsmaßnahmen zu machen, weniger die Abstinenz.

krautinvest.de: Was bedeuten aus soziologischer Sicht die Begriffe “Drogenmündigkeit” und “Konsumkompetenz” und welche Voraussetzungen muss eine Gesellschaft schaffen, um beides zu fördern (vor allem in Bezug auf Cannabis)?

Prof. Dr. Gundula Barsch:  Mit dem Begriff „Drogenmündigkeit“ werden zwei, man könnte sagen höchst widersprüchliche Themen zusammengebracht: Da ist zum einen der Begriff „Drogen“, zu dem in vielen Teilen der Gesellschaft noch immer ein höchst negatives Bild existiert: Danach seien diese Substanzen durch ihre Pharmakologie per se Suchtmittel, die fast dämonisch nach der Seele der Konsumenten greifen und sie um Verstand, Kontrolle und Autonomie bringen. Und da ist der ehrwürdige Begriff „Mündigkeit”, der sich in der Philosophie auf die Fähigkeit einer Person bezieht, basierend auf Wissen, Urteilsvermögen und ethischen Grundsätzen selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu handeln.

Wenn wir diesen Begriff auf den Gebrauch von Drogen anwenden, wird der Begriff „Drogenmündigkeit“ zu einer Gegenposition: Statt wie bisher allen präventiven Bemühungen das Ziel der Verhinderung oder Minderung, in idealer Weise die Abstinenz von Drogenkonsum voranzustellen, plädiert das Mündigkeitskonzept dafür, den emanzipierten und unproblematischen Umgang mit psychoaktiven Substanzen zum Ziel aller bewussten und planmäßigen Einwirkungen in Sachen Drogen werden zu lassen.

Mit „Drogenmündigkeit” wird also das Paradigma signalisiert, dass eine Person die Fähigkeit entwickeln und besitzen kann, fundierte Entscheidungen über den Konsum von Drogen zu treffen – eine Fähigkeit, die auf einer umfassenden Kenntnis der potenziellen Risiken, des Nutzens, der gesundheitlichen Auswirkungen und sozialen Konsequenzen basiert.

Dieser Leitidee schließt sich der Begriff „Konsumkompetenz“ zwar an, aber er ist in seiner philosophischen Bedeutung nicht so klar und deutlich. Immerhin ließe sich Kompetenz und vor allem mangelnde Kompetenz auch ohne den Verweis auf den Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung von Drogenkonsum verwenden. Dagegen wird Drogenkonsum unter dem Blick von Drogenmündigkeit als akzeptierbar, erlernbar und lebbar verstanden und setzt damit einen ganz anderen Rahmen vor allem für Drogenpolitik, Bildung und Gesundheit. In diesem werden die Prohibition und paternalistische Schutzansprüche des Staates oder einzelner Institutionen zurückgewiesen.

krautinvest.de: Selbstbestimmung und Autonomie: Ist eine Person in der Lage, unabhängig von sozialen Einflüssen und äußeren Zwängen eine Entscheidung über den Drogenkonsum zu treffen?

Prof. Dr. Gundula Barsch:  Wie eine Person in der Lage ist, eine Entscheidung über den Konsum von Drogen zu treffen, ist das Ergebnis sehr komplexer Wirkungszusammenhänge. Der selbstbestimmt und absolut autonom entscheidende Mensch, der unabhängig von sozialen Einflüssen und äußeren Zwängen ist, ist wohl in allen Feldern sozialen Handelns eher eine Illusion. Menschen treffen Entscheidungen basierend auf einer Vielzahl von Einflüssen, darunter persönlichen Erfahrungen, den Einwirkungen des sozialen Umfeldes, mit Blick auf genetische Veranlagungen, psychologische Zustände und die Verfügbarkeit von Informationen.

Für die Entwicklung und die Praxis des Drogenkonsums lassen sich zumindest folgende Aspekte benennen, aus denen sich Einflussfaktoren auf Autonomie und Selbstbestimmung ergeben:

  • Biologische Voraussetzungen: Einige Menschen können aufgrund ihrer genetischen Veranlagung anfälliger für problematische Folgen des Drogenkonsums (z. B. psychische Störungen) sein. Soziales Umfeld: Freunde, Familie und die Gesellschaft im Allgemeinen können erheblichen Einfluss auf die Entscheidung eines Individuums in Bezug auf Drogenkonsum haben. Soziale Normen und Druck von Gleichaltrigen können eine Person dazu bringen, Entscheidungen zu treffen, die sie ohne diese Einflüsse vielleicht nicht treffen würde.
  • Psychologischer Zustand: Der psychische Zustand einer Person z. B. Stress, Angst oder Depression, kann ihre Fähigkeit beeinträchtigen, kluge Entscheidungen zu treffen. Vor allem dann, wenn Drogen als Bewältigungsmechanismus genutzt werden und damit eher negative Entwicklung für die physische, psychische und soziale Gesundheit angestoßen werden.
  • Information und Bildung: Eine fundierte Entscheidung erfordert Zugang zu genauen Informationen u. a. über die Auswirkungen und Risiken von Drogenkonsum. Fehlende oder falsche Informationen können die Entscheidungsfindung beeinträchtigen oder sogar in die falsche Richtung lenken.
  • Selbstkontrolle und Persönlichkeit: Die Fähigkeit, Versuchungen zu widerstehen und Impulskontrolle auszuüben, kann stark variieren. Unübersehbar ist, dass einige Menschen eine stärkere Selbstkontrolle als andere haben.

Das Theorem „Drogenmündigkeit“ basiert auf der demokratisch-emanzipatorischen Grundüberzeugung, dass Menschen diesen Limitierungen nicht gnadenlos ausgeliefert sind, sondern geht davon aus, dass die überwiegende Mehrzahl der Menschen autonom die für sie passende und damit richtige Entscheidung auch für den Umgang mit psychoaktiven Substanzen treffen wird, wenn sie die Chance hat, sich durch entsprechende Fähigkeiten, Motivationen und Möglichkeiten zu einer solchen Handlungsfähigkeit in den Stand zu versetzen (vgl. auch Uhl 2007, S. 10). Folgerichtig sind die für die Entwicklung von Drogenmündigkeit präferierten Methoden sind Ermächtigen, Befähigen und Ermöglichen.

krautinvest.de: Informierte Entscheidungen: Hat eine Person ausreichende Informationen über die Drogen, die sie konsumieren möchte? Sind sich Menschen tatsächlich der Risiken und Konsequenzen bewusst?

Prof. Dr. Gundula Barsch: Es ist wichtig, dass eine Person, die Drogenkonsum in Erwägung zieht oder bereits konsumiert, ausreichende Informationen über die Substanzen hat, die sie verwenden möchte. Dies schließt das Verständnis der Risiken und akuten und langfristigen Konsequenzen des Drogenkonsums mit ein. Dazu gehören zum Beispiel:

  • Gesundheitliche Auswirkungen: Drogenkonsum kann schwerwiegende gesundheitliche Auswirkungen haben, von kurzfristigen Nebenwirkungen wie Übelkeit und Verwirrung bis hin zu langfristigen Schäden an Organen, dem Gehirn und dem allgemeinen Wohlbefinden. Eine Person sollte sich der möglichen Risiken für ihre Gesundheit bewusst sein.
  • Risiken der Entwicklung einer Abhängigkeit: Viele Drogen haben das Potenzial, körperlich abhängig zu machen; für fast alle psychoaktiven Substanzen kann auch nachgezeichnet werden, dass sie in bestimmten Konsummustern als unersetzlich erscheinen für das psychische Wohlergehen und damit eine psychische Abhängigkeit anstoßen. Eine Person sollte die Zusammenhänge verstehen, wie und unter welchen Bedingungen sie physisch oder psychisch von einer Substanz abhängig werden kann, wie diese Abhängigkeit Einfluss auf das Denken und Handeln nimmt und wie diesen Wirkungszusammenhängen begegnet werden kann.
  • Rechtliche Konsequenzen: Illegalisierter Besitz und Konsum von Drogen kann zu rechtlichen Konsequenzen führen, einschließlich Verhaftung, Strafen und Vorstrafen. Es ist wichtig, die rechtlichen Rahmenbedingungen in Bezug auf Drogenbesitz und -konsum zu kennen.
  • Wechselwirkungen: Der Konsum mehrerer Substanzen gleichzeitig, seien es legale Medikamente oder andere psychoaktive Substanzen, kann gefährliche Wechselwirkungen verursachen. Eine Person sollte wissen, wie verschiedene Substanzen miteinander interagieren können.
  • Soziale Auswirkungen: Drogenkonsum hat fast immer auch soziale Auswirkungen, wird zu einem Thema in die sozialen Beziehungen der Familien und Lebensgemeinschaften, am Arbeitsplatz und in der Einbindung in sozialen Netzwerken. Es ist wichtig, beim Drogenkonsum die möglichen negativen Folgen für das soziale Leben mitzudenken und im konkreten Handeln zu berücksichtigen.
  • Hilfe und Unterstützung: Eine Person sollte wissen, wo es Unterstützung, Beratung und Behandlungsmöglichkeiten gibt für den Fall, dass sie Schwierigkeiten mit ihrem Drogenkonsum bekommt.

Insgesamt wird deutlich, dass die Entwicklung von Drogenmündigkeit keineswegs ein profaner Prozess ist, der sich auf wenige Dimensionen wie Information und Aufklärung beschränkt. Er ist insbesondere deshalb so anspruchsvoll, weil Drogenmündigkeit als ein sehr komplexes Handeln in Sachen Drogen verstanden werden muss. So erweist sich Drogenmündigkeit auf der individuellen Ebene als Resultante aus einem Bündel technischer, sozialer, kultureller, reflexiver, emotionaler, sinnliche und nicht zuletzt ethischer Kompetenzen, die jeweils für sich genommen schon Herausforderungen darstellen.

Vor dem Hintergrund heutigen Wissens sehe ich folgende Bereiche als Kernbereiche von Drogenmündigkeit:

  • Drogenkunde in ihren informativen, kulturellen und technischen Aspekten
  • Genussfähigkeit, in ihren technischen, motivationalen, sinnlichen, sozialkulturellen und ethischen Elementen
  • Kritikfähigkeit mit analytischen, reflexiven und ethischen Dimensionen sowie
  • Fähigkeiten zum Risikomanagement, die ebenfalls informative, technische, sozialkulturelle und ethische Komponenten beinhalten

Diese Fähigkeiten und Motivationen begründen Drogenmündigkeit und schaffen die Basis dafür, dass Menschen in den vielfältigsten Alltagssituationen in Bezug auf Drogen autonom und kundig handeln.

“Autonom ist der Umgang, weil er weder durch Verbote noch durch Anheimfallen fremdbestimmt erfolgt, sondern sich nach erfahrungsgeleiteten, selbst gesetzten Regeln richtet. Kundig ist dieser Umgang, weil er auf einem Wissen um die Lust und die Last der Drogen beruht.” (Marzahn 1994, S. 44)

krautinvest.de: Ethik – gibt es ethische Aspekte im Zusammenhang mit dem Drogenkonsum? Kann eine Person in der Lage sein, die Auswirkungen ihres Handelns auf sich selbst und andere zu beurteilen?

Prof. Dr. Gundula Barsch: Ja, definitiv gibt es ethische Aspekte im Zusammenhang mit dem Drogenkonsum. Schon in den oben wurden diese Aspekte, wenn auch indirekt, immer angezeigt. Die ethischen Überlegungen beziehen sich auf die individuellen Entscheidungen einer Person über den Konsum von Drogen sowie die möglichen Auswirkungen auf sich selbst und andere. Insofern ist der Drogenkonsum nur unter sehr begrenzten Gesichtspunkten eine rein private Angelegenheit.

Um das nachzuvollziehen, reicht ein Blick auf folgende Aspekte:

  • Selbstschädigung: Eine der ethischen Fragen im Zusammenhang mit Drogenkonsum dreht sich um die potenzielle Selbstschädigung. Wenn jemand bewusst Substanzen so konsumiert, dass sie seiner Gesundheit schaden, wirft dies die Frage auf, in wieweit eine Person Verantwortung für ihren eigenen Körper und ihre Gesundheit übernimmt.
  • Verantwortung gegenüber anderen: Der Drogenkonsum kann auch Auswirkungen auf andere haben. Vielfach sind es insbesondere die Eltern, die Lebenspartner, die Kinder, Freunde und die Gesellschaft im Allgemeinen, die mit emotionalen, finanziellen oder sogar kriminellen Belastungen konfrontiert werden können.
  • Fahrlässigkeit und Unfallrisiko: Wenn der Konsum von Drogen das Urteilsvermögen, die Koordination oder die Wahrnehmung beeinträchtigt, kann dies das Risiko von Unfällen erhöhen, bei denen auch Unbeteiligte geschädigt werden können. Ich persönlich möchte mich z. B. im Straßenverkehr darauf verlassen können, dass alle Verkehrsteilnehmer mit ihren besten Fähigkeiten und Fertigkeiten unterwegs sind.

Ob eine Person in der Lage ist, die Auswirkungen ihres Handelns auf sich selbst und andere zu beurteilen, hängt wiederum von verschiedenen Faktoren ab, darunter der psychischen Gesundheit, körperlichen Verfassung, den Kenntnissen über die Konsequenzen des Drogenkonsums und den individuellen Lebensumständen. Deshalb können Menschen in verschiedenen Situationen auch unterschiedlich beurteilen, wie ihre Handlungen andere beeinflussen könnten. Klar ist, dass die Beurteilung ethischer Aspekte sehr subjektiv ist und von kulturellen, moralischen und persönlichen Werten abhängt. In vielen Fällen kann eine kritische Selbstreflexion darüber, wie der Drogenkonsum das eigene Leben und das Leben anderer beeinflusst, dazu beitragen, die ethischen Implikationen besser zu verstehen und informierte Entscheidungen zu treffen.

Deshalb gehört für mich die Kritikfähigkeit zu den Grundfähigkeiten von Drogenmündigkeit. Auch diese ist wieder hochkomplex und lässt sich in verschiedene Dimensionen unterscheiden:

  • Die analytischen Elemente der Kritikfähigkeit manifestieren sich u. a. im Einschätzungsvermögen von Situationen. Dabei geht es vor allem darum, Anforderungen, Belastungen sowie die einzubringenden Entscheidungs- und Handlungsfähigkeiten realistisch einschätzen, den Konsequenzen eines Drogenkonsums gegenüberstellen und mit diesen abwägen zu können. Eine solche analysierende Kritikfähigkeit fördert Entscheidungen für einem Drogenkonsum, der hinsichtlich Menge, Ort, Zeit und Konsumform der jeweiligen Situation entspricht.
  • Als wesentliches reflexives Element der Kritikfähigkeit sei das Vermögen hervorgehoben, sich selbst in Bezug auf die Funktionen und die Rolle des jeweils praktizierten Drogenkonsums in der jeweiligen Situation, der konkreten Gemeinschaft und der persönlichen Biographie kritisch vergewissern und ggf. Korrekturen an getroffenen Entscheidungen vornehmen zu können.
  • Als wesentliche ethische Elemente der Kritikfähigkeit bewerte ich die Fähigkeiten zu einem sozial verantwortlichen Handeln und der Respekt vor der inneren und äußeren Natur des Menschen, die sich auch in der Art und Weise des Umgangs mit Drogen widerspiegeln müssen.

krautinvest.de: Gesellschaftliche Verantwortung – welche Rolle spielt die Gesellschaft dabei, Menschen dabei zu helfen, informierte Entscheidungen über den Drogenkonsum zu treffen? Wo liegen die Grenzen zwischen persönlicher Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung?

Prof. Dr. Gundula Barsch: Im Ergebnis von Drogenmündigkeit entsteht ein integrierter, autonom kontrollierter und genussorientierter Drogenkonsum, der allen Konsumenten psychoaktiver Substanzen die selbst bestimmte und selbstverständliche Teilnahme am allgemeinen gesellschaftlichen Leben ermöglicht. Dies insbesondere deshalb, weil mündiger Drogenkonsum mit von außen und mit selbst gestellten Anforderungen und Aufgaben vereinbar wird und an Stelle irrationaler Verhaltensroutinen ein bewusstes und differenziertes Risikomanagement tritt. Das wäre die Dimension auf der Ebene des Individuums. Dessen individuelle Verantwortung besteht darin, sich um die dafür nötigen Kenntnisse, Fähigkeiten, Einstellungen, Motive usw. zu bemühen und zu entwickeln.

Die Entwicklung von Drogenmündigkeit ist allerdings das Ergebnis komplexer, auch widersprüchlicher Wirkungszusammenhänge. Sie erhält von den verschiedenen Ebenen der Gesellschaft (gesamtgesellschaftlich, kollektiv, individuell) und aus vielen Bereichen (u.a. Ökonomie, Politik, Rechtssystem, Bildungssystem) fördernde und/oder hemmende Impulse. Die Entwicklung von Drogenmündigkeit vollzieht sich damit in vorgegebenen Rahmenbedingungen, die die Entwicklung von Drogenmündigkeit unterstützen, torpedieren oder verhindern können. Die Verminderung von Drogenproblemen ist insofern als eine komplexe Gestaltungsaufgabe zu verstehen, mit der ein Rahmen für die Entwicklung von Drogenmündigkeit herzustellen ist.

Es ist zudem zu berücksichtigen, dass der Umgang mit psychoaktiven Substanzen nicht auf einen einzelnen individualistischen Akt reduziert werden darf. Er ist vielmehr als Teil unserer Kultur zu verstehen, der in vielfältigen soziokulturellen Zusammenhängen hergestellt, vermittelt und verändert wird. Auf diese Weise gerät in den Blick, dass das jeweils geltende Wertesystem beispielsweise bestimmt, welche Substanzen zu kulturell Integrierbaren erklärt werden und definiert, welche Phänomene als problematisch verstanden werden. Die Entwicklung von Drogenmündigkeit hängt deshalb wesentlich davon ab, ob kollektive Verständigungsprozesse zum Drogenkonsum überhaupt zugelassen und wie sie geführt werden. In diesem Zusammenhang erweist sich die im Wesentlichen ausgebliebene gesellschaftliche Verständigung und das fehlende Aushandeln sozial vereinbarter Regeln zum konsumbedingten Kontrollverlust als ein folgenschweres Manko.

Zweifellos kann die Forderung nach einer solchen gesellschaftlichen Aushandlung als provokant, ja als schier unzumutbar aufgefasst werden. Immerhin sind allgegenwärtige Selbstkontrolle, Affektverdrängung, Triebregulierung und Rationalität nach wie vor hoch geschätzte Werte in unserer, von protestantischer Ethik geprägten Gesellschaft. Wohl auch deshalb konnten die dringend notwendigen Auseinandersetzungen bisher erfolgreich abgewehrt und blockiert werden. Das Zurückweisen und Diskriminieren von Diskussionen um die Akzeptanz und Angemessenheit des Drogenkonsums haben jedoch dazu geführt, dass bisher kein kollektiver Konsens dazu entwickelt werden konnte, an welchem Ort, zu welcher Zeit, in welcher Menge und für welche Personen Drogenkonsum als akzeptabel angesehen werden kann, welche Situationen als unangemessen gelten und welche Chancen ein selbst kontrollierter, an Genuss orientierter Drogenkonsum in welchen Formen hat. Damit fehlen klare Orientierungspunkte und Bewertungsmaßstäbe, so dass Drogenkonsumenten bei der Suche nach angemessenen Formen des Drogenkonsums auf sich allein gestellt bleiben und Ideen von einer vermeintlichen Beliebigkeit und jederzeitigen Konsumierbarkeit Nahrung erhalten.

Weitere Ansatzpunkte, Drogenprobleme zu vermindern, leiten sich zugleich daraus ab, dass Drogenkonsum ein soziales Ereignis ist, dass im Rahmen einer Drogenkultur vermittelt und geregelt wird, in die der einzelne fest eingebettet ist:

“Im Rahmen gemeiner Drogenkultur ist der Gebrauch von Drogen nicht aus Zeit und Raum heraustabuisiert. Vielmehr hat er in beiden seinen klaren und umgrenzten Ort. Man versammelt sich an einer besonderen Stelle und umgibt sich mit dem rechten Raum und schönem Gerät. Der gemeinsame Drogengebrauch hat einen Anfang und ein Ende. Er läuft selbst nach einer inneren Ordnung ab, die aus der Erfahrung hervorgegangen und deshalb nicht beliebig ist und mit der Zeit zur Zeremonie, zum Ritus sich verdichtet hat. Diese innere Ordnung und ihre äußere Form, das Ritual – sie sind es, welche anleiten zum rechten Gebrauch der Droge und bewahren vor Unheil und Zerstörung. In allen gemeinen Drogenkulturen obliegt es deshalb dem Kundigen, die Unerfahrenen in diese Ordnung einzuführen.” (Marzahn 1994, S. 94)

Deutlich wird, dass drogenmündiges Verhalten von Individuen und sozialen Gruppen immer eingebunden ist in den Bestand kultureller Handlungsräume und Verhaltensmodelle. Dies zeigt sich nicht nur in Bezug auf Fragen nach der Angemessenheit von Drogenkonsum, nach Konsumanlässen und -Situationen. Der kulturelle Einfluss einer Gesellschaft lässt sich selbst in weniger augenscheinlichen Phänomenen wie beispielsweise der Geschmacksprägung und den Erlebensweisen von Rausch aufzeigen.

Drogenmündigkeit ausschließlich als individuelles Phänomen wahrzunehmen, erweist sich vor diesem Hintergrund als fahrlässige Verkürzung. In den Auseinandersetzungen um Chancen und Probleme bei der Entwicklung von Drogenmündigkeit dürfen Einflussfaktoren aus Kultur und Gesellschaft, die Missbrauch und Exzess im Umgang mit Drogen motivieren, nicht aus der Betrachtung ausgeblendet werden. Individuelle Drogenmündigkeit kann in ihrer Qualität nicht völlig anders sein, als die Drogenmündigkeit sozialer Gruppen und die Drogenmündigkeit einer Gesellschaft als Ganzes. Insofern bringt die Gesellschaft die Drogenmündigkeit hervor, die sie verdient!

In Zusammenhang mit der beabsichtigten Regulierung des Cannabiskonsums werden diese Zusammenhänge zu zentralen Leitideen, die über das Gelingen dieses Vorhabens entscheiden wird, m. E. aber in den bisherigen Ideen zu wenig Beachtung gefunden haben.

krautinvest.de: Bildung und Prävention: Wie können Bildung und Aufklärung dazu beitragen, die Drogenmündigkeit zu fördern?

Prof. Dr. Gundula Barsch: In Auseinandersetzung mit den derzeitigen Limits aller Ansätze von Suchtprävention lassen sich dazu einige zentrale Prinzipien formulieren:

  • Erhöhung der Glaubwürdigkeit von Informationen: Keine Idealisierung auf der einen und keine Dramatisierung auf der anderen Seite
  • Lernprozesse ermöglichen: Wissen, Erfahrungen und praktische Fertigkeiten zum risikobewussten Umgang mit Cannabis sollten schwellenlos entstehen können und in unterstützenden / beratenden Situationen geprüft, ggf. korrigiert und weitergegeben werden. Auf diese Weise muss nicht jede neu einsteigende Konsumentengeneration immer wieder neu „durch Erfahrungen klug werden“.
  • Förderung der Kommunikation zu Regeln eines risikobewussten Umgangs: Regelmodelle für den Konsum sollten nicht mehr allein in den Konsumentenszenen erstellt werden, sondern auch durch sozial integrierte Personen der Mehrheitsgesellschaft, die Normen und Werte vertreten, die als wünschenswert in unserer Kultur gelten. Insofern finden Konsumenten Kontrapunkte zu problematischen Konsumnormen. Die Möglichkeiten für einen sozialintegrierte Konsum können auf diese Weise realistischer gesehen und der Konsum an sich weniger angstbesetzt verhandelt werden (u. a. zwischen Eltern u. Jugendlichen).
  • Normalisierung: Cannabiskonsum sollte aus Peer-Group-Zusammenhängen entkoppelt werden und seinen Status als symbolische aufgeladen im Sinne „subkulturell bedeutsam“, „Destinktionsmittel für bestimmte Normen und Werte“ und als „Provokation und damit als Mittel für das wechselvolle Spiel von Verbot und Entdeckung“ verlieren. Wo Cannabiskonsum nichts Besonderes mehr ist, ist auch der Nichtkonsum nichts Besonderes mehr.
  • Entstigmatisierung eines bis dahin gesetzeswidrigen Konsums: Die kritische Prüfung des eigenen Cannabiskonsums, ggf. seine Aufgabe und die Suche nach geeigneten Hilfeangeboten fällt leichter, wenn keine Strafverfolgung gefürchtet werden muss.
  • Heraus aus der Heimlichkeit: Wenn der Konsum und damit eventuell verbundene Probleme ohne Drohung von Stigmatisierung und Sanktionierung nicht mehr verheimlicht werden müssen, können rascher angemessene Maßnahmen ergriffen werden, wenn durch den Konsum Probleme entstehen.
  • Austrocknung des Schwarzmarktes: Es braucht Abgabemodelle, in denen die verwendeten Substanzen in Bezug auf Zusammensetzung, Wirkstoffgehalt und Beimengungen kontrolliert werden und ein Verbraucherschutz organisiert ist. Zugleich ist dafür Sorge zu tragen, dass die Gewalt reduziert wird, die sich regelmäßig um einen illegalisierten Drogenhandel etabliert.
  • Verhinderung des Umstiegs auf Substanzen: Regulierungsmodelle zu Cannabis sollten so konzipiert sein, dass ein Umstieg auf andere psychoaktive Substanzen nicht ausdrücklich begünstigt wird.
  • Verhinderung ernsthafter Eingriffe in die Biografien von Konsumenten: Der Abbau der Strafverfolgung sollte so umfänglich erfolgen, dass Konsumenten in ihren Möglichkeiten zur sozialen Integration, der Wahrnehmung von beruflichen und sozialen Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten wegen des Drogenkonsums beeinträchtigt werden.

Nimmt man all diese Aspekte zusammen, die sich um den Begriff „Drogenmündigkeit“ ranken, dann werden zum einen die höchst komplexen Anforderungen deutlich, die an die Ausgestaltung einer Regulierung von Cannabis gestellt sind. Diese orientieren mehrheitlich auf Gefahrenabwehr und Risikomanagement durch Befähigen und Lernen, wenden den Blick aber auch hin zu der Notwendigkeit, die Entwicklung einer Cannabis-Drogenkonsumkultur in der Breite zu befördern. Soweit ich die bisher vorliegenden Vorstellungen zu einer Regulierung kenne, lassen sich diesbezüglich erhebliche, noch zu füllende Leerstellen aufzeigen.

Über die Autorin:

Prof. Dr. phil. habil. Gundula Barsch ist eine deutsche Soziologin, Sozialarbeitswissenschaftlerin und Drogenforscherin. Sie war 1981 bis 1989 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akademie der Wissenschaften der DDR, Institut für Soziologie und Sozialpolitik, Forschungsschwerpunkt Lebensweisen und 1989 bis 1991 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Suchtklinik des Wilhelm-Griesinger-Krankenhauses in Ostberlin (Schwerpunkt Alkohol und Alkoholmissbrauch). Sie war von 1992 bis 1995 Leiterin des Forschungsprojektes Entwicklung des Drogenkonsums unter Ostberliner Jugendlichen und von 1994 bis 1998 Leiterin des Referats Drogen und Menschen in Haft der Deutschen AIDS-Hilfe. Seit 1998 ist sie Professorin im Lehrgebiet Drogen und soziale Arbeit an der Hochschule Merseburg. Prof. Barsch ist Mitglied im Schildower Kreis, einem Experten-Netzwerk, das gegen die Drogenprohibition argumentiert, und des wissenschaftlichen Beirats des Branchenverbandes Cannabiswirtschaft e.V. Gemeinsam mit der Berliner Cannabishilfe initiierte sie zuletzt das Projekt INDICA – Interdisziplinäre Forschungsdatenbank zu Cannabis als Medizin

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