Genehmigungsvorbehalt auf der Kippe? Cannabis-Selektivvertrag soll im Dezember starten

by Dr. med. Anna Platzmann

Viel Hoffnung dürften sich versicherte Schmerzpatient:innen der AOK Rheinland / Hamburg Anfang des Jahres gemacht haben, als erstmals durchsickerte, dass ein Selektivvertrag mit der  Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) die Verschreibung von medizinischem Cannabis für Ärzte:innen zumindest regional alsbald extrem erleichtern könnte. Mitte des Jahres sollte es losgehen. Sollte. Denn gehört hat man seitdem nichts. Vorhaben gescheitert? Von wegen. Wie krautinvest.de erfahren hat, soll das Modellvorhaben bereits Anfang Dezember starten. Und zwar größer als ursprünglich geplant. Neben der AOK Rheinland / Hamburg gesellt sich laut DGS auch die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein als Vertragspartner hinzu.

Zur Erinnerung: Dem Selektivvertrag liegt die Idee zugrunde, dass die von der DGS geschulten Ärzte:innen Cannabis verschreiben dürfen, ohne das aufwendige bürokratische Prozedere mit Prüfung durch den medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) zu durchlaufen. Gegenüber krautinvest.de kündigt DGS-Präsident Dr. Johannes Horlemann nun an, dass “der Start des Selektivvertrages zum 01.12.2021 erwartet” werde. Die Verzögerung habe sich aufgrund von rechtlichen Rahmenbedingungen und der Einbeziehung der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein als dritten Partner ergeben.

“Der Selektivvertrag wird zunächst in Nordrhein eingeführt, es gab seitens der Ärzteschaft in Nordrhein bereits viele Anfragen”, erklärt der DGS-Präsident, der davon ausgeht, dass “eine verantwortete, erleichterte Zugangsberechtigung Patienten ermutigen wird, die Ärzte allerdings auch, in eine Cannabis-Therapie einzusteigen.” Schließlich müssten  die “bürokratischen Hürden, die bisher bestanden, als hoch bezeichnet werden”.

“Defizit bezüglich der Wirkmechanismen und Differenzial-Therapie mit Cannabinoiden bei den Ärzten.”

Kein Wunder also, dass medizinisches Cannabis hierzulande nicht gehalten hat, was sich viele im März 2017 erhofft hatten, als das “Cannabis als Medizin Gesetz” in Kraft trat. So schätzt Dr. Julian Wichmann, Facharzt und Geschäftsführer des europaweit führenden Telemedizin Unternehmens Algea Care, dass bisher weniger als zwei Prozent der Ärzte Cannabis-Therapien jemals verschrieben haben. Von den 800.000 Patient:innen in Deutschland, von denen einige Industrievertreter analog zu kanadischen Zahlen einst ausgingen, ist man noch ein gutes Stück weit entfernt. Über 100.000 dürften es inzwischen immerhin sein. Laut Horlemann ein weiterer Grund neben den bürokratischen Hürden: “Nach meiner persönlichen Einschätzung besteht immer noch ein erhebliches Defizit bezüglich der Wirkmechanismen und Differenzial-Therapie mit Cannabinoiden bei den Ärzten.”

Der Selektivvertrag könnte sowohl dieses Wissensdefizit als auch die bürokratischen Hürden abbauen. Hat das Modell Erfolg, könnte der Genehmigungsvorbehalt auf der Kippe stehen. Horlemann hofft, “im weiteren Verlauf auf eine Ausdehnung des Vertrages”. Nach seiner Einschätzung werde der Vertrag mit 50 Verordnern oder mehr starten und soll, so die Hoffnung “Modellcharakter” für andere Krankenkassen haben, “die bereits jetzt interessiert der Entwicklung zusehen und diese auch kommentieren.” Die Therapiefreiheit, so das Versprechen, soll gewahrt werden.

Damit dürften die DGS und ihre beiden Partner in der Industrie auf positives Echo stoßen. Erst kürzlich hatte Cannamedical-Gründer David Henn im Gespräch mit krautinvest.de kritisiert: “Entscheidend für weiteres Wachstum 2022 ist letztlich die Abschaffung des Genehmigungsvorbehalts – bereits heute ein für die Kassen unverhältnismäßiger Aufwand.” Auch Linus Weber, Gründer und Geschäftsführer des Großhändlers Nimbus Health, bewertet das Modell positiv: “Der Selektivvertrag zwischen AOK und DGS geht in die richtige Richtung. Wir müssen die Therapieentscheidung bei Cannabinoid-basierten Arzneimitteln bei den Ärzten verankern, da diese nach langjähriger Behandlung am besten entscheiden können, welche Therapie eingesetzt werden muss.”

DGS bemüht sich seit Jahren um bessere Versorgung

Zum Hintergrund: Seit Jahren bemüht sich die DGS um eine bessere Versorgung der Patient:innen mit Cannabinoiden in Deutschland. Bisher muss die behandelnde Ärztin bzw. der behandelnde Arzt bei jedem Patient:in individuell einen Antrag auf Kostenübernahme durch die Krankenkasse stellen, etwa jeden dritten Antrag lehnt der medizinischer Dienst der Krankenkassen (MDK) laut Ärztezeitung ab. 

Die Gründe dafür sind vielfältig, beispielsweise darf die Verordnung von Cannabinoiden erst nach Ausschöpfung aller zur Verfügung stehender medikamentöser und alternativer Behandlungsoptionen erfolgen. Bei den als Indikationsstellung typischen Erkrankungen im Bereich der chronischen Schmerzen, darunter vor allem neuropathische Schmerzen im Bereich des Rückens, und Tumorerkrankungen, sind die verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten dementsprechend lang. 

Im Januar 2021 wurde mit dem “Gemeinsamen Eckpunktepapier vom 19.1.21” ein Grundstein dafür in die Wege geleitet. So heißt es im Eckpunktepapier, das von der DGS zusammen mit Abgeordneten der Großen Koalition festgelegt wurde, dass das Ziel der Versorgung “eine qualitativ hochwertige Behandlung durch qualifizierte Verordner” sei, “denen die Verordnung durch bürokratische Hindernisse nicht erschwert wird”. Beispiele für bestehende Selektivverträge sind die hausarztzentrierte Versorgung und auch die von Haus-und Fachärzten durchgeführten Disease Managed Programs (DMP) für chronische Erkrankungen wie z.B. Diabetes, oder COPD. Dabei werden Verträge laut Ärzteblatt “direkt zwischen einem Vertragsarzt und einzelnen Krankenkassen geschlossen” und  “kassenindividuelle Regelungen für die Vergütung und die Versorgung” festgelegt bei freiwilliger Teilnahme für Versicherte und Vertragsärzte.

Beim nun anstehenden Selektivvertrag für Cannabis geht es auch darum, beim Verzicht auf den Genehmigungsvorbehalt das Vertrauen der Krankenkassen zu rechtfertigen. Entsprechend soll der Selektivvertrag evaluiert werden, auch andere gesetzliche Krankenkassen sollen diese Ergebnisse einsehen können. Weiter heißt es im Eckpunktepapier: “Die Qualifizierung der Verordner soll im stationären und ambulanten Bereich durch eine curriculare Fortbildung der DGS sichergestellt werden.”1 Die Fortbildung umfasst demnach 40 Stunden plus jährliche Weiterbildungen für die entsprechenden Ärzte. Ebenso soll die Praxisleitlinie Cannabis in der Schmerzmedizin der DGS bis Ende 2021 überarbeitet werden.

Mehr zum Thema

Leave a Comment