Auf diesen Gründen beruht die wachsende Anzahl an Cannabis-Patient:innen in Deutschland

by Gastautor

Ein Gastbeitrag von Alfredo Pascual

In den letzten Jahren haben viele europäische Länder medizinisches Cannabis in irgendeiner Form legalisiert, zumindest medizinische Cannabisprogramme oder Pilotprojekte eingeführt. Dabei erregte allerdings kein Land so viel Aufmerksamkeit wie Deutschland. Durch die Gesetzesänderung 2017, die den Zugang zu medizinischem Cannabis erweiterte, etablierte sich Deutschland als größter Cannabismarkt Europas.

Auch wenn die Reform für medizinisches Cannabis im Vereinigten Königreich vom November 2018 mit der deutschen Gesetzesänderung vom März 2017 vergleichbar ist, haben sich beide Märkte bereits in den ersten Jahren nach der Verabschiedung der neuen Vorschriften komplett unterschiedlich entwickelt.

Die deutsche Reform für medizinisches Cannabis führte zu einem von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) abgedeckten Markt, der sich bereits 2018 auf 74 Millionen Euro belief. Dieser Markt wächst kontinuierlich: 2019 stieg er um 66 % an und belief sich auf 123 Millionen Euro und 2020 wuchs er um weitere 34 % auf 165 Millionen Euro. Fast 90 % der Bevölkerung in Deutschland sind durch die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) versichert. Grundpfeiler des Systems ist die Finanzierung durch das sogenannte Solidaritätsprinzip, was bedeutet, dass die Versicherten “eine medizinische Behandlung erhalten, ohne die Kosten selbst aufbringen zu müssen”.

Dies gilt für Cannabisverschreibungen, darunter sogar auch für Cannabisprodukte ohne Marktzulassung. Vergleichbar ist das in etwa mit den nicht lizenzierten Cannabisprodukten für medizinische Zwecke (CBPMs) im Vereinigten Königreich. In Deutschland müssen hierfür bestimmte Bedingungen erfüllt werden – beispielsweise dass mit den Produkten eine schwere Erkrankung behandelt und die Produkte nicht zur Erstbehandlung eingesetzt werden dürfen. Für jedes Cannabisprodukt ohne Marktzulassung muss in Deutschland ein individueller Antrag auf Kostenübernahme gestellt werden, von denen allerdings viele abgelehnt werden.

Mit 130 Millionen Euro, die für 262.996 Verschreibungen in den ersten neun Monaten des Jahres 2021 erstattet wurden, wird die Erstattung für medizinisches Cannabis 2021 wahrscheinlich, wenn auch langsam, steigen. Und das stellt nur ein Ausschnitt des deutschen Marktes für medizinisches Cannabis dar. Denn der Gesamtumsatz ist tatsächlich deutlich höher. Schließlich werden die Erstattungen durch die gesetzlichen Krankenkassen für die so genannten privaten Verkäufe auf Rezept in der Umsatzberechnung nicht berücksichtig. Für diese Verkäufe gibt es keine verlässlichen, öffentlich zugänglichen Daten. Es ist davon auszugehen, dass diese Verkäufe einen zunehmend größeren Teil des Marktes ausmachen, insbesondere im Fall von Cannabisblüten.

Der deutsche Privatmarkt umfasst nicht nur die circa 10% der Bevölkerung, die bei einer privaten Krankenversicherung versichert sind, sondern eine beträchtliche Anzahl von Patient:innen mit einer gesetzlichen Krankenversicherung. Entweder wurden die Cannabisanträge der Versicherten von der gesetzlichen Krankenkasse abgelehnt oder sie konnten keine Ärzte oder Ärztinnen finden, die bereit waren ihnen einen Antrag auf Kostenübernahme zu stellen; oder aber sie konnten nur einen Arzt, eine Ärztin finden, der oder die bereit war, ein Cannabisrezept auszustellen, dass der oder die Patient:in aus eigener Tasche bezahlen muss.

Die Erstattung durch die gesetzlichen Krankenkassen umfasst nicht die Verkäufe durch Privatrezept, für die es keine zuverlässigen, öffentlich zugänglichen Daten gibt. Es wird aber allgemein angenommen, dass sie einen zunehmend bedeutenden Teil des deutschen Marktes ausmachen.

Der britische Markt für nicht lizenzierte Cannabisprodukte für medizinische Zwecke (CBPMs) wächst. Der Gesamtumsatz im Vereinigten Königreich ist aber 2021 im Vergleich zu Deutschland gering, selbst wenn man die spätere Reform vom November 2018 im Vereinigten Königreich gegenüber März 2017 in Deutschland berücksichtigt. Die Gründe für das schnellere Marktwachstum in Deutschland sind nicht auf einen einzelnen spezifischen Faktor zurückzuführen, sondern liegen wahrscheinlich an verschiedenen Kontexten der deutschen Vorschriften und der Geschichte von medizinischem Cannabis.

Säulen des deutschen medizinischen Cannabismarktes

Der deutsche Markt für medizinisches Cannabis beruht auf mehreren Säulen, die in ihrer Kombination seinen vergleichsweise großen Erfolg – zumindest auf europäischer Ebene – erklären. Sie gewährleisten einen breiteren Zugang zu medizinischem Cannabis als beispielsweise in Vereinten Königreich möglich.

  • Gesetzlicher Krankenversicherungsschutz;
  • Jede:r Arzt/ Ärztin – mit Ausnahme von Zahnärzt:innen und Tierärzt:innen – kann Cannabis verschreiben;
  • Geschichte der Verordnungen vor der Reform von 2017 (Ausnahmegenehmigung);
  • Zentrale Rolle der Apotheken ;
  • Anbau im eigenen Land;
  • Magistrale Zubereitungen – Compounding – auch für Blüten;
  • Keine eingeschränkte Liste von medizinischen Erkrankungen, für die Cannabis verschrieben werden kann

Betrachtet man die sieben Säulen aus der Perspektive des Vereinigten Königreichs, so wird deutlich, dass das Vereinigte Königreich vergleichbare Momente aufweist. Beispielsweise wenn es darum geht, die therapeutischen Indikationen nicht einzuschränken, für die nicht zugelassene CBPMs verschrieben werden können. Auch im Vereinigten Königreich haben die Patient:innen Zugang zu einer Reihe von Cannabisprodukten – einschließlich Blüten. Entsprechen könnten die deutlichen Unterschiede aller anderen Säulen den breiteren Zugang zu medizinischem Cannabis in Deutschland erklären.

Es gibt keinen spezifischen Einzelfaktor, der das schnellere Marktwachstum in Deutschland erklärt. Die Gründe liegen in verschiedenen Kontexten der deutschen Bedingungen und der Geschichte von medizinischem Cannabis in Deutschland.

Obwohl die deutschen gesetzlichen Krankenkassen etwa ein Drittel der Anträge auf Erstattung von Cannabis ablehnen, wurde mit der deutschen Gesetzesreform von 2017 festgelegt, dass schwer kranke medizinische Cannabis-Patient:innen unter bestimmten Voraussetzungen ihre Cannabis-Rezepte vom öffentlichen Gesundheitssystem erstattet bekommen sollen.

In den ersten neun Monaten des Jahres 2021 wurden 262.966 Verschreibungen von medizinischem Cannabis durch das deutsche Gesundheitssystem abgedeckt, 77 % davon betrafen Produkte, die im Vereinigten Königreich als nicht lizenzierte CBPMs gelten würden. Dies stellt einen deutlichen Unterschied zum fast rein privaten britischen Markt für nicht lizenzierte CBPMs dar.

Es ist in jedem Land schwierig, Ärzte oder Ärztinnen zu finden, die bereit sind, medizinische Cannabisprodukte zu verschreiben, deren Wirksamkeit nicht durch klinische Studien belegt ist. Aber im Vereinigten Königreich – wo die Verschreibung auf Fachärzte:innen beschränkt ist – ist die Situation restriktiver als in Deutschland. Dort können auch Allgemeinärzt:innen Cannabis-Rezepte ausstellen. Dadurch vergrößert sich der Kreis der Ärzt:innen, die Cannabis als Therapieoption in Betracht ziehen können effektiv.

Vor den regulatorischen Änderungen in den letzten Jahren in beiden Ländern gab es in Deutschland eine bedeutsame Vergangenheit begrenzter Cannabisverschreibungen. Eine relativ kleine Gruppe deutscher Ärzte/ Ärztinnen, die über sehr gutes Wissen über Cannabinoide verfügte, konnte schon lange vor der Reform von 2017 medizinisches Cannabis verschreiben.

Dronabinol wird seit 1998 für magistrale Zubereitungen verwendet. Sativex – das erste aus Cannabis gewonnene Medikament, das eine Marktzulassung erhielt – war 2011 verfügbar. Etwa tausend Patient:innen hatten vor der Reform von 2017 Zugang zu Cannabis (einschließlich importierter Blüten), welches sie in einem komplizierten Verfahren mit Einzelfallgenehmigungen aus eigener Tasche bezahlen mussten.16

Ärzte oder Ärztinnen zu finden, die bereit sind, medizinische Cannabisprodukte zu verschreiben, deren Wirksamkeit nicht durch klinische Studien belegt ist, ist in jedem Land schwierig. Aber es ist in Deutschland wahrscheinlich etwas einfacher als im Vereinigten Königreich, weil in Deutschland Cannabisrezepte von Allgemeinärzt:innen ausgestellt werden können.

Die Änderung der Vorschriften im März 2017 hat den Werkzeugkasten dieser Ärzt:inen erweitert und den Markt drastisch vergrößert, so dass er bis Ende 2021 schätzungsweise 100 Mal größer sein wird, was die Zahl der Patient:innen angeht.

Auch die Rolle der Apotheken ist in Deutschland anders als im Vereinigten Königreich. Sowohl im Vereinigten Königreich als auch in Deutschland geht man davon aus, dass es eine kleine Anzahl von Apotheken gibt, die für die meisten Cannabisverschreibungen verantwortlich sind. In Deutschland ist die Situation jedoch dezentraler. Aufgrund der magistralen Zubereitung, die für nicht zugelassene CBPMs charakteristisch ist, spielen die Apotheken eine zentrale Rolle. Diese Rolle geht über das Zusammenstellen und Abgeben eines Cannabisrezepts hinaus, da Apotheker auch an der Entwicklung von Qualitätsstandards beteiligt sind.

Ein weiterer Unterschied zwischen den Reformen von 2017 in Deutschland und 2018 im Vereinigten Königreich besteht darin, dass der deutsche Gesetzgeber einen Schwerpunkt auch auf den Anbau im eigenen Land zur Versorgung des heimischen Marktes legte. Die ersten deutschen Ernten wurden den Patient:innen im Juli 2021 zur Verfügung gestellt, was allerdings deutlich später war, als ursprünglich erwartet und in Mengen, die nur einen Bruchteil des Gesamtmarktes ausmachen. Der Preis von 4,30 Euro pro Gramm, zu dem inländische Cannabisblüten an Apotheken verkauft werden, hat jedoch wahrscheinlich dazu beigetragen, dass auch Preise für importierte Produkte unter Druck geraten sind. Dadurch sind wiederum insgesamt die Preise gesunken – mit der Folge, dass die Cannabistherapie für Patient:innen, die diese aus eigener Tasche zahlen, erschwinglicher geworden ist.

Wie im Vereinigten Königreich steht den Patient:innen auch in Deutschland eine Reihe von nicht lizenzierten – oder auch nicht zugelassenen – medizinischen Cannabisprodukten zur Verfügung. Dieser Vorzug Deutschlands und des Vereinigten Königreichs unterscheidet sich von den Programmen für medizinisches Cannabis anderer europäischen Länder. So ermöglicht beispielsweise Österreich Patient:innen nicht die Option, Cannabisblüten zu verwenden. Andere Länder wie Portugal schränken dagegen die therapeutischen Indikationen ein, für die Cannabis als geeignet angesehen wird. Solche Einschränkungen gibt es weder in Deutschland noch im Vereinigten Königreich.

Was das Vereinigte Königreich über mehr Forschung hinaus tun kann

Die Notwendigkeit von mehr Forschung wird oft als Schlüssel für einen breiteren Zugang zu medizinischem Cannabis angeführt. Das ist schon seit Jahrzehnten so, wobei die deutschen Pharma-Nachrichten bereits 1998 die Notwendigkeit von mehr Forschung hervorhoben – damals war Dronabinol erstmals für Patient:innen verfügbar.

Ohne die Bedeutung der Forschung zu schmälern – die für eine Ausweitung des Zugangs überall auf der Welt von Vorteil wäre – sollten die an einer Ausweitung des Zugangs zu medizinischem Cannabis interessierten Akteure im Vereinigten Königreich auch die strukturellen Unterschiede zwischen dem deutschen und dem britischen Programm für medizinisches Cannabis betrachten.

Mehr Forschung ist sowohl im Vereinigten Königreich als auch in Deutschland erforderlich, aber es ist nicht der Umfang oder die Qualität der wissenschaftlichen Forschung oder die Ergebnisse klinischer Studien, die erklären, warum es in Deutschland fünf Jahre nach der Gesetzesänderung eine viel größere Zahl von Patient:innen mit medizinischem Cannabis gibt als im Vereinigten Königreich. Während weitere Forschungen durchgeführt werden müssen, könnten sich Interessenvertreter im Vereinigten Königreich, die an einer Ausweitung des Zugangs zu medizinischem Cannabis interessiert sind, auf die Unterschiede in den meisten der oben beschriebenen Säulen konzentrieren und sehen, was im britischen Kontext anwendbar wäre. Die wichtigsten dieser Säulen sind die Deckung durch die öffentliche Krankenversicherung, die Erlaubnis für jeden Arzt oder jede Ärztin – nicht nur für Fachärzt:innen -, nicht zugelassene CBPMs zu verschreiben. Außerdem muss ein politischer Schwerpunkt auf dem legalem inländischen Anbau liegen, um die Abhängigkeit von importierten Produkten zu minimieren und dadurch cannabisbasierte Endprodukte erschwinglicher zu machen.

Über Alfredo Pascual

Alfredo Pascual ist ein renommierter Analyst der Cannabisbranche mit Sitz in Deutschland. Seit 2016 identifiziert er Opportunitäten und generiert Erkenntnisse für Unternehmen und Investoren in Europa und Lateinamerika. Alfredo ist aktuell Vice President of Investment Analysis bei Seed Innovations Ltd (LON: SEED), einem am AIM notierten Unternehmen, das in schnell wachsende und branchenführende Unternehmen mit Fokus auf medizinisches Cannabis, Gesundheit und Wellness investiert. Zuvor arbeitete Alfredo als internationaler Analyst bei Marijuana Business Daily (MJBiz), einer in den USA ansässigen Quelle für Wirtschaftsnachrichten und -informationen, wo er sich auf die Berichterstattung über die internationale Entwicklung der Cannabismärkte und -investitionen konzentrierte. Alfredo hat einen akademischen Hintergrund in Wirtschaft und Politik.

Hinweis: Dieser Beitrag erschien zunächst in englischer Sprache in dem Paper “Decalogue – Ideas to Increase Patient Access and Clinical Understanding of Medicinal Cannabis”, herausgegeben vom Centre for Medicinal Cannabis. Dahinter steht eine Gruppe von von Wissenschaftler:innn, Branchenführer:innn, Mediziner:innn und Aktivist:innen, die für politische Änderungen plädiert, um ein besseres Verständnis der Vorteile von medizinischem Cannabis, einen besseren Zugang zu Arzneimitteln für Patient:innen zu erwirken und Regulierung dahingehend zu ändern, dass institutionelle Investitionen in dem Sektor gefördert werden. Mehr Informationen unter: decalogue.info

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