Ein Gastbeitrag von Grischa Judanin, Arzt und Gründer von 5Swan
Ich erinnere mich an einen 72-jährigen Patienten, der zum ersten Mal nach Jahrzehnten wieder schmerzfrei schlafen konnte. Kurz darauf begann er wieder mit leichtem Sport. Was ihm half, war eine Cannabistherapie – verordnet über Telemedizin. Kein Hokuspokus, sondern seriöse Medizin. Und nun plant die Bundesregierung, genau dieses Modell zu zerstören.
Die Diskussion um Cannabis in Deutschland hat in den letzten Jahren enorm an Fahrt aufgenommen. Als jemand, der die Entwicklungen im Cannabis-Markt hierzulande aufmerksam verfolgt, sehe ich dringenden Reformbedarf – sowohl bei der medizinischen Versorgung als auch im Umgang mit Cannabis als Genussmittel. Dabei möchte ich aus persönlicher Perspektive schildern, welche Maßnahmen jetzt notwendig sind. Es geht um kontrollierte Telemedizin, eine bessere Produktauswahl und Qualität, mehr Bildung und Aufklärung, soziale Gerechtigkeit für Patientinnen und Patienten, eine sichere Abgabe für Freizeitanwender – und letztlich um verlässliche Rahmenbedingungen für die Branche.
Kontrollierte Telemedizin statt pauschaler Verbote
Die Telemedizin hat sich für viele Cannabis-Patientinnen und -Patienten als Segen erwiesen. Gerade Menschen in ländlichen Regionen oder mit Mobilitätseinschränkungen konnten über Online-Sprechstunden endlich Ärztinnen und Ärzte finden, die offen für eine Cannabis-Therapie sind. Leider schießt der neue Referentenentwurf zur Änderung des Medizinal-Cannabisgesetzes (MedCanG) hier weit übers Ziel hinaus. Künftig soll eine Erstverschreibung von medizinischem Cannabis nur noch nach persönlichem Arzt-Patienten-Kontakt vor Ort erfolgen, gefolgt von mindestens einem jährlichen Präsenztermin. Zudem soll der Versandhandel mit Cannabisblüten verboten werden, sodass Patientinnen und Patienten ihr Rezept nur noch persönlich in der Apotheke einlösen dürfen.
Diese geplanten Restriktionen sind eine Reaktion auf reale Missstände. Ja, es gibt Plattformen, bei denen nahezu automatisiert Rezepte ausgestellt werden, ohne dass eine echte ärztliche Beratung stattfindet. Doch die Antwort darauf kann nicht sein, die gesamte Telemedizin zu diskreditieren.
Wir brauchen Regeln, nicht Verbote.
Wir brauchen Qualitätssicherung, keine Rückabwicklung.
Wer Telemedizin pauschal verbietet, verordnet Rückschritt.
Ich betone deshalb:
Dieser Entwurf ist derzeit noch ein Entwurf. Kein Gesetz, kein Beschluss. Und das ist der Moment, in dem die demokratische Debatte beginnen muss. Statt Panik brauchen wir Sachlichkeit. Statt Abwehr brauchen wir Dialog. Jetzt ist die Zeit, mit den Verantwortlichen zu sprechen, konstruktives Feedback zu geben und an den entscheidenden Stellen nachzuschärfen. Differenzierung ist möglich – und notwendig.
Was wir brauchen:
- Eine gesetzlich geregelte, verantwortungsvolle Telemedizin für Cannabis-Therapie
- Klare Standards für Diagnostik, Dokumentation und Nachsorge
- Technische und fachliche Qualitätskontrolle statt Pauschalverbote
Faire Vergütung statt Null-Euro-Rezepte
Ein weiterer Punkt, der mir sehr wichtig ist: Ärztinnen und Ärzte müssen für ihre Arbeit fair vergütet werden. Im letzten Jahr haben sich sogenannte „0-Euro-Rezepte“ verbreitet – also Verordnungen, bei denen die Patientinnen und Patienten nur für das Medikament zahlen, der Arzt aber keine echte Honorierung erhält. Das ist nicht nur unzumutbar, sondern auch unzulässig.
Ärztliche Leistung kostet Zeit, Verantwortung und Expertise. Eine Cannabis-Therapie ist keine Gefälligkeit, sondern eine medizinische Entscheidung mit Diagnostik, Aufklärung und kontinuierlicher Begleitung. Jede ärztliche Tätigkeit muss nach der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) oder entsprechendem Kassensatz vergütet werden. Auch niedrigschwellige, digitale Angebote dürfen davon nicht ausgenommen werden.
Denn eines ist klar: Ein Preiskampf auf dem Rücken der ärztlichen Integrität schadet am Ende allen – den Patientinnen und Patienten, der Qualität der Versorgung und dem Vertrauen in das System.
Versorgung sichern: Versand erhalten, Apotheken stärken
Ebenso problematisch ist das geplante Verbot des Arzneimittelversands bei Cannabis. In Deutschland hat sich ein Netz von spezialisierten Apotheken entwickelt, die Cannabis-Blüten und -Extrakte mit hoher Expertise führen. Viele dieser Apotheken bieten einen zuverlässigen Versand an – für viele Patientinnen und Patienten ist das essenziell, insbesondere bei chronischer Erkrankung oder eingeschränkter Mobilität.
Wir sollten diese Versorgungsstrukturen nicht zerschlagen, sondern absichern und verbessern.
Die Antwort kann nur lauten:
- Qualität sichern, nicht Versand verbieten
- Kompetente Beratung verpflichtend machen
- Wahlfreiheit für Patientinnen und Patienten erhalten
Weniger Sortenchaos – mehr Standardisierung
Die Vielzahl an Cannabisprodukten ist für viele Menschen unüberschaubar geworden. Ärztinnen, Apotheker und Patientinnen verlieren im Dschungel der Sorten und Anbieter schnell den Überblick.
Was wir brauchen, ist eine Reduktion auf das Wesentliche:
- Geprüfte, qualitativ hochwertige Sorten
- Standardisierte Extrakte mit reproduzierbarer Wirkung
- Verbindliche Analysen und transparente Deklaration
Kompetenz statt Stigma: Bildung und Aufklärung ausbauen
Cannabis muss Bestandteil medizinischer Lehre werden. Wer heute ein Medizinstudium abschließt, sollte die Grundlagen des Endocannabinoid-Systems, der Cannabinoide und ihrer Wirkweise kennen.
Das heißt konkret:
- Integration in Curricula von Medizin, Pharmazie und Pflege
- Pflichtfortbildungen für verschreibende Ärztinnen und Apotheker
- Aufklärungskampagnen für die Bevölkerung – gegen Stigma, für Wissen
Patientinnen mit Cannabis-Therapie sind keine „Kiffer mit Rezept“. Sie sind Menschen mit realen Leiden. Sie verdienen Würde, Schutz und Anerkennung – nicht Misstrauen und Schubladendenken.
Soziale Gerechtigkeit statt medizinischer Ungleichheit
Medizinisches Cannabis darf kein Privileg für Wohlhabende sein. Die Kostenübernahme durch gesetzliche Krankenkassen ist oft willkürlich, restriktiv und intransparent.
Ich fordere:
- Eine gesetzlich verankerte Möglichkeit zur Kostenübernahme auch bei Privatverordnungen
- Klare Kriterien für Erstattungsfähigkeit
- Rechtssicherheit für Patientinnen und Ärztinnen
Kontrollierte Freizeitabgabe – aber sicher, über Apotheken
Der Freizeitkonsum von Cannabis ist Realität. Ihn zu ignorieren, hilft niemandem. Was wir brauchen, ist ein sicherer, regulierter Zugang für Erwachsene.
Das heißt:
- Abgabe über Apotheken
- Mengen- und THC-Grenzen
- Altersverifikation und Registrierung
- Aufklärung, Missbrauchsprävention, Jugendschutz
Ein Lieferdienst kann dabei eingebunden werden – aber nur bei klarer gesetzlicher Kontrolle.
Verantwortung für die Branche
Die aktuelle Unsicherheit betrifft nicht nur Patienten. Auch Ärztinnen, Apotheken, Start-ups, Investoren stehen unter Druck. Ideen, Arbeitsplätze, Forschung – all das steht auf dem Spiel.
Doch auch hier gilt: Die Zeit der schnellen Profite ist vorbei.
Wir brauchen:
- Klare gesetzliche Rahmenbedingungen
- Transparente Regulierungsbehörden
- Belohnung von Verantwortung statt Ausnutzung von Grauzonen
Fazit: Zeit für einen echten Neuanfang
Wir brauchen keine Symbolpolitik und keine Panik.
Wir brauchen kluge, gerechte und fachlich fundierte Entscheidungen.
Telemedizin – ja, aber kontrolliert.
Versand – ja, aber kompetent.
Produktauswahl – reduziert, aber qualitätssicher.
Bildung – umfassend.
Versorgung – gerecht.
Freizeitkonsum – reguliert und sicher.
Wir können Vorreiter sein.
Deutschland kann beweisen, dass moderne Versorgung, Patientenschutz und wirtschaftliche Verantwortung Hand in Hand gehen.
Die Gesetzesnovelle ist nicht das Ende.
Sie ist der Anfang einer Debatte, die wir jetzt führen müssen.
Offen. Konstruktiv. Und im Sinne der Menschen.
Wenn mich jemand fragt, was mich an der Cannabis Medizin begeistert, dann ist es, dass eine einfache, längst bekannte Pflanze – direkt vor unseren Augen, natürlich, wirksam und kostengünstig – endlich wieder gesehen wird.
Es zeigt mir: Die größten Hilfen sind oft die, die wir jahrelang übersehen haben.
Disclaimer: Gastbeiträge müssen nicht die Meinung der Redaktion widerspiegeln.
1 comment
Ich teile die vorgetragenen Argumente in weiten Teilen.
Große Bedenken hätte ich jedoch in Hinblick auf die vorgeschlagene Registrierung von Genusskonsumierenden. Einmal erhobene Daten verschwinden nicht wieder und eine Machtübernahme der radikalen Rechten lässt sich auf absehbare Zeit leider nicht mehr mit hinreichender Sicherheit ausschließen. Welche Repressionen und Schikanen die derart Registrierten dann potentiell zu gegenwärtigen hätten, möchte man sich lieber nicht weiter ausmalen.
Auch die Versorgung der Freizeitkonsumierenden über Apotheken scheint mir nicht wirklich ideal, Zigarren oder Whiskey würde man ja auch eher nicht in der Apotheke nachfragen. Dezidierte Fachgeschäfte wären hier mE deutlich besser geeignet, gerade auch in Hinblick auf eine mögliche Beratung jenseits medizinischer Aspekte. Gleichwohl könnten Apotheken sicher in mancherlei Hinsicht Vorbild für derartige Geschäfte sein, etwa in Bezug auf Qualitätsstandards, Verfahren und Lieferketten.
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