Warum rezeptfreies THC-Cannabis als OTC in deutschen Apotheken rechtlich ein schwieriges Unterfangen ist

by Gastautor

Ein Gastbeitrag von Thomas Hauk, Co-Founder und Managing Director von Linnaeus Partners

Die jüngste Teillegalisierung von Cannabis in Deutschland durch das Cannabisgesetz (CanG) zum 1. April 2024 war zweifellos ein bedeutender Schritt. Die Diskussion über einen vereinfachten Zugang zu medizinischem Cannabis, wie sie von Befürwortern wie von manchen Politikern, Apothekern und Branchenvertretern artikuliert wird, ist verständlich und spiegelt den Wunsch vieler Patienten nach einer unkomplizierten Versorgung wider. Der Ruf nach einem rezeptfreien Cannabisprodukt mit moderatem THC-Gehalt (bis zu 10%) in Apotheken, ohne spezifische Indikation oder Zielpublikum, erscheint auf den ersten Blick als logische Weiterentwicklung, um bürokratische Hürden abzubauen und den Zugang zu erleichtern.

Aber wie so oft liegt die Krux im internationalen Drogenrecht, insbesondere im UN- und EU-Recht. So muss demnach eine kritische rechtliche Machbarkeitsprüfung erfolgen. Eine solche Analyse offenbart, dass das vorgeschlagene Modell, so wünschenswert es aus Patientensicht auch erscheinen mag, auf erhebliche und teilweise unüberwindbare rechtliche Hindernisse stößt – sowohl auf internationaler, europäischer als auch nationaler Ebene. Ein streng reguliertes OTC-Modellprojekt nach BtmG wäre derzeit die einzige rechtliche Möglichkeit für rezeptfreies THC-Cannabis in deutschen Apotheken. Der Zugang für Freizeitkonsumenten wird realistischerweise jedoch eher durch Forschungsprojekte zum Freizeitkonsum nach dem Konsumcannabisgesetz (KCanWV) ermöglicht als durch eine Änderung des Arzneimittelrechts.


Die strengen Vorgaben des internationalen Drogenkontrollregimes

Im Kern der internationalen Drogenpolitik stehen die UN-Drogenkonventionen: das Einheitsübereinkommen über Suchtstoffe von 1961 und das Übereinkommen über psychotrope Stoffe von 1971. Cannabis ist im Anhang I des Einheitsübereinkommens von 1961 als Suchtstoff gelistet, während Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) im Anhang II des Übereinkommens von 1971 als psychotroper Stoff geführt wird.

Diese Konventionen schreiben eine strenge Kontrolle vor und begrenzen die Verwendung dieser Substanzen ausschließlich auf medizinische und wissenschaftliche Zwecke. Dies impliziert eine notwendige medizinische Aufsicht und eine klare Zweckbestimmung. Die Verschreibungspflicht für Cannabis ergibt sich aus Art. 30 Abs. 2 lit. b (ii) des Einheitsübereinkommens über Suchtstoffe von 1961: „(…) der Einzelverkauf oder die Abgabe von Suchtstoffen (…) darf nur auf ärztliche Verschreibung erfolgen (…)“

Die Abgabe von Cannabis mit 10% THC als Over-the-Counter (OTC)-Medikament, vollständig rezeptfrei, ohne spezifische Indikation oder definiertes Zielpublikum, steht im fundamentalen Widerspruch zu diesen Verpflichtungen. Das Internationale Suchtstoffkontrollorgan (INCB) hat wiederholt Bedenken geäußert, wenn sogenannte „medizinische Cannabisprogramme“ nicht den von der WHO empfohlenen Standards für Herstellung und Verschreibung entsprechen. Ein solches OTC-Modell würde die Kernprinzipien der internationalen Drogenkontrolle – die Verhinderung von Missbrauch und die Sicherstellung einer kontrollierten medizinischen Anwendung – eklatant untergraben.


Das Dilemma im EU-Arzneimittelrecht

Auch das EU-Recht setzt dem Ansinnen enge Grenzen. Die Richtlinie 2001/83/EG (Gemeinschaftskodex für Humanarzneimittel) definiert die Kriterien für die Klassifizierung von Arzneimitteln – insbesondere, ob sie verschreibungspflichtig sind oder als OTC-Produkt abgegeben werden können. Für die Einstufung als rezeptfreies Arzneimittel müssen strenge Kriterien erfüllt sein, darunter ein sehr geringes Risiko bei unsachgemäßer Anwendung, geringe Toxizität und die Eignung zur Selbstmedikation ohne ärztliche Diagnose oder Überwachung.

Cannabis mit 10% THC, als psychotrop wirksame Substanz mit Suchtpotential, erfüllt diese Kriterien kaum. (Und warum nicht mit maximal 5 oder 15% THC? Gibt es klinische Studien, die zeigen, dass die Therapie mit Cannabis mit bis zu 10% unter ärztlicher Aufsicht weniger harmlos ist als der Gebrauch von Sorten mit bis zu 15% THC-Gehalt?)
Arzneimittel, die Suchtstoffe oder psychotrope Stoffe enthalten, sind per Definition meist verschreibungspflichtig. Darüber hinaus erfordert die Zulassung eines Arzneimittels in der EU stets eine definierte Indikation – also den Nachweis der Wirksamkeit und Sicherheit für einen bestimmten therapeutischen Zweck oder bei einer spezifischen Diagnose. Die Vorstellung eines OTC-Arzneimittels ohne Indikation oder Zielpublikum ist mit dem europäischen Arzneimittelrecht unvereinbar. Eine EU-weite Harmonisierung würde durch einen Alleingang Deutschlands, der den internationalen Verpflichtungen zuwiderläuft, gefährdet.


Die Realität des deutschen Medizinal-Cannabisgesetzes

Der 1. April 2024 brachte mit dem MedCanG zwar eine Entbürokratisierung der Cannabisverschreibung in Deutschland mit sich. Medizinalcannabis ist nun nicht mehr direkt im Betäubungsmittelgesetz (BtMG) gelistet, was bedeutet, dass keine spezielle BtM-Verschreibung mehr erforderlich ist; eine „normale“ ärztliche Verschreibung ist ausreichend.

Allerdings bleibt medizinischer Cannabis nach dem MedCanG und dem Arzneimittelgesetz (AMG) ausdrücklich verschreibungspflichtig. § 3 MedCanG formuliert unmissverständlich, dass Medizinalcannabis von Apotheken nur auf ärztliche Verschreibung hin abgegeben werden darf. Der Weg zur Rezeptfreiheit ist somit keineswegs eine kleine Anpassung, sondern würde eine fundamentale Änderung des MedCanG und des AMG erfordern. Eine solche Änderung stünde, wie oben dargelegt, im direkten Konflikt mit den internationalen und EU-rechtlichen Verpflichtungen Deutschlands. Die Behauptung, die Infrastruktur sei bereits vorhanden und Apotheken seien bereit, ignoriert diese tiefgreifenden rechtlichen Hürden.


Die Tücke des „Ohne Indikation“ und die Rolle der Apotheker

Die Argumentation, Apotheker könnten eine fachliche Aufsicht bieten und 10% THC sei gut kontrollierbar, übersieht eine entscheidende Dimension. Während Apotheker eine unverzichtbare Beratungsfunktion innehaben, können sie bei einem rezeptfreien, psychoaktiven Produkt ohne spezifische Indikation nicht die Rolle einer medizinischen Diagnose und Verordnung ersetzen, die von UN- und EU-Regelwerken für kontrollierte Substanzen gefordert wird.


GMP-Zertifizierung und fehlender Präzedenzfall

Die Forderung nach EU-GMP (Good Manufacturing Practice)-zertifizierten Blüten ist zwar ein wichtiger Aspekt zur Sicherstellung der Produktqualität und -sicherheit. Sie ist jedoch eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Zulassung als OTC-Medikament ohne Indikation. GMP-Standards regeln die Herstellung ab der Ernte, nicht die rechtliche Klassifizierung oder die Zulassung der Verkehrsfähigkeit für eine bestimmte Anwendungsform.

Zudem gibt es in keinem anderen EU-Mitgliedstaat oder international einen vergleichbaren Präzedenzfall für die rezeptfreie Abgabe von THC-haltigen Cannabisblüten ohne spezifische Indikation für medizinische Zwecke. Bestehende medizinische Cannabisprogramme sind ausnahmslos verschreibungspflichtig und/oder auf definierte Indikationen beschränkt.
Die Diskussion um „Modellprojekte“ für Cannabis bezieht sich in Europa derzeit primär auf den Umgang mit Konsumcannabis (z.B. Deutschlands geplante Pilotprojekte, deren Anträge bereits an die zuständige Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung BLE gestellt worden sind; oder die wissenschaftlich begleiteten Pilotprojekte in den Niederlanden und der Schweiz), die unter spezifischen wissenschaftlichen Begründungen und innerhalb der Grenzen des Völkerrechts als kontrollierte Experimente begründet werden. Eine Übertragung dieses Ansatzes auf ein medizinisches Produkt ohne definierte medizinische Zweckbestimmung ist rechtlich kaum zu rechtfertigen.


OTC-Modellprojekt als gangbarer Weg

Im Unterschied zu einer dauerhaften Entlassung aus der Verschreibungspflicht, die sowohl völker- als auch europarechtlich konfliktträchtig wäre, könnte eine befristete, wissenschaftlich begleitete OTC-Abgabe im Rahmen eines Modellprojekts rechtlich zulässig sein. § 3 Abs. 2 BtMG erlaubt wissenschaftliche Ausnahmen, wenn diese zu wissenschaftlichen oder im öffentlichen Interesse liegenden Zwecken erfolgen.

Auch Art. 5 Abs. 1 der EU-Richtlinie 2001/83/EG erlaubt den Mitgliedstaaten, den Vertrieb eines nicht zugelassenen Arzneimittels zu genehmigen, wenn dies zur Erfüllung besonderer öffentlicher Bedürfnisse erforderlich ist. Dies kann auch eine zeitlich und sachlich begrenzte Abgabe im Rahmen eines Forschungsprojekts rechtfertigen, insbesondere wenn sie dem Ziel dient, Versorgungswege zu untersuchen oder gesundheitsbezogene Erkenntnisse zu generieren.

Eine kontrollierte, wissenschaftlich begleitete OTC-Abgabe in Apotheken wäre somit denkbar, allerdings nur befristet und mit enger Eingrenzung.


OTC-Modellprojekte mit Medizinalcannabis und Konsumcannabis-Pilotprojekte nach dem KCanG verfolgen unterschiedliche Zielrichtungen und rechtliche Ansätze

Der Blick sollte sich daher weniger auf die medizinische OTC-Schiene richten, sondern auf die Forschungsvorhaben, die unter der neuen Konsumcannabis-Wissenschaftskompetenzverordnung (KCanWV) ermöglicht werden. 

Während OTC-Projekte den Zugang zu standardisierten Cannabisarzneimitteln ohne Rezept unter wissenschaftlicher Begleitung erproben würden – etwa im Rahmen eines befristeten Versorgungsmodells in Apotheken –, zielen die Konsumcannabis-Pilotprojekte nach KCanG auf die kontrollierte Abgabe von Genusscannabis an Erwachsene ab, außerhalb medizinischer Kontexte. Letztere sind völker- und europarechtlich klarer legitimiert, da sie unter den Ausnahmevorbehalt „zu wissenschaftlichen Zwecken“ fallen und bereits eine gesetzliche Grundlage besitzen. OTC-Projekte hingegen bewegen sich in einer sensibleren Schnittstelle zwischen Arzneimittel-, Betäubungsmittel- und internationalen Drogenrecht, was ihre Umsetzung anspruchsvoller macht.


Fazit: Eine mutige, aber rechtlich (noch) nicht gangbare Vision

Das Vorhaben, Medizinalcannabis mit bis zu 10% THC rezeptfrei in deutschen Apotheken abzugeben – ohne Rezept, Indikation oder Zielpublikum – ist aus rechtlicher Sicht unter den aktuellen globalen, europäischen und nationalen Rahmenbedingungen nicht umsetzbar. Es handelt sich dabei um einen radikalen Bruch mit internationalen Drogenkontrollverträgen und dem etablierten europäischen Arzneimittelrecht. Um dies zu realisieren, wären tiefgreifende und hochkomplexe multilaterale Verhandlungen zur Änderung der UN-Drogenkonventionen sowie grundlegende Reformen der EU-Arzneimittelgesetzgebung erforderlich – ein Szenario, das in absehbarer Zeit als äußerst unwahrscheinlich gilt.

Deutschland hat mit dem Medizinal-Cannabisgesetz einen wichtigen Weg beschritten. Weitere Schritte zur Patientenversorgung müssen jedoch innerhalb der bestehenden und bindenden internationalen sowie europäischen Rechtsrahmen erfolgen. Dies könnte beispielsweise die Verbesserung der Kostenübernahme für verschreibungspflichtiges medizinisches Cannabis umfassen.

Ein mutiger, aber gleichzeitig verantwortungsbewusster Weg in der Cannabispolitik bedeutet, die Chancen zu nutzen, aber die Realität des Rechts nicht aus den Augen zu verlieren. Der Wunsch nach unkompliziertem Zugang ist nachvollziehbar, die rechtliche Machbarkeit ist jedoch eine andere Frage.

OTC-Cannabis hat lediglich das Potenzial für ein streng reguliertes Modellprojekt. Doch der rechtlich realistischere Weg zu mehr Zugang für Konsumierende liegt derzeit in der Forschung nach KCanWV im Bereich Konsumcannabis mit Fachgeschäften für den Freizeitkonsum, ähnlich wie die laufenden Pilotprojekte in der Schweiz und in den Niederlanden – nicht in der Neudefinition des Arzneimittelrechts.

Über den Autor:

Thomas Hauk, Mitgründer von Linnaeus Partners, verfügt über 15 Jahre Erfahrung in der Gesundheitsbranche, insbesondere in den Bereichen Medizinalcannabis, Medizintechnik und digitale Gesundheit. Zuvor war er im Bereich M&A und strategische Unternehmensberatung in ganz Europa tätig. Er ist C-Level erfahren, Unternehmer mit einem soliden internationalen Netzwerk und derzeit Mitbegründer und Geschäftsführer von Linnaeus Partners, einer Unternehmensberatung im Bereich Life Sciences mit Fokus auf Cannabis.

Disclaimer: Keine Rechtsberatung. Gastbeiträge müssen nicht die Meinung der Redaktion widerspiegeln.

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