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Smarte Cannabinoid-Wirkstoffabgabesysteme (Drug Delivery Systems)

Portrait Sung-Min Pyo

Ein Gastbeitrag von Dr. Sung-Min Pyo

Bioverfügbarkeit – ein wichtiges Thema für Cannabinoide

Ein Wirkstoff wirkt nur dann, wenn er auch an seinem Zielort im Körper ankommt. Von der Einnahme bis zum Ziel muss er dabei einige Hürden überwinden. Denn der Körper vermag nicht zwischen einer heilenden und einer giftigen Substanz zu unterscheiden. Beide Substanzen werden gleichermaßen als fremd eingestuft und durch leistungsfähige Mechanismen an der Aufnahme gehindert. Wie viel der eingenommenen Menge daher tatsächlich in den Blutkreislauf gelangt und dem Körper zur Verfügung steht, wird durch die sogenannte „Bioverfügbarkeit“ beschrieben. Im folgenden Artikel wird am Beispiel der Cannabinoide Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD) die Relevanz der Bioverfügbarkeit dargestellt. Darüber hinaus werden die neuesten Technologien zur Erhöhung der Bioverfügbarkeit und damit der Wirksamkeit und Sicherheit vorgestellt.

Cannabis, der Allrounder unter den Kulturpflanzen 

Cannabis ist eine der ältesten Kulturpflanzen überhaupt und besticht durch seine vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten. Seine Fasern zum Beispiel sind sehr reißfest und Wärme speichernd. Deshalb sind sie in der Textilindustrie zur Herstellung von Kleidung ebenso beliebt wie in der Bauindustrie als Dämmmaterial. Aus den Samen wiederum lassen sich wertvolle Lebensmittel wie Hanföl, Hanfmilch und Hanfmehl gewinnen. Letzteres hält immer mehr Einzug in die heimischen Küchen, denn es ist nicht nur vegan und glutenfrei, sondern eignet sich mit nur drei Gramm Kohlenhydraten pro 100 Gramm Mehl hervorragend für eine kohlenhydratarme Ernährung. Zum Vergleich: Weizenmehl, Reismehl und Maismehl bestehen aus über 75 Gramm Kohlenhydraten pro 100 Gramm Mehl.

Die Blüten der weiblichen Pflanze Cannabis sativa finden unverändert oder als Extrakt Verwendung in der Medizin. Denn dieser Teil der Pflanze ist besonders reich an Cannabinoiden, wie Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD), denen die therapeutische Wirkung der Pflanze zugeschrieben wird. Bereits 2737 vor Christus verabreichte der chinesische Kaiser Shen-Nong Cannabis bei verschiedensten Krankheiten, wie Verstopfung, Gicht, Malaria, Rheuma, Frauenkrankheiten und Geistesabwesenheit, sowie auch bei Nervenentzündungen, Ödemen und Herzerweiterung. Die Beschreibung der Pflanze, sowie ihre heilende Wirkung wurde im Buch „Shen-Nong Bencaojing“, übersetzt „Heilkräuterklassiker nach Shen-Nong“ festgehalten [1]. In Deutschland sind die Blüten und ihr Extrakt seit dem 10. März 2017 in pharmazeutischer Qualität erhältlich, ebenso wie THC für die Herstellung von individuellen Rezepturen. Darüber hinaus sind zwei Fertigarzneimittel erhältlich: Sativex mit den Wirkstoffen THC und CBD sowie Canemes mit Nabilon, einem künstlich hergestellten Cannabinoid. Diese Produkte und weitere Produktkandidaten, die sich derzeit in der klinischen Phase befinden, sind in Tabelle 1 zusammengefasst.

Tabelle 1: Auszug aus dem Europäischen Clinical Trials Register von verschiedenen CBD- und THC-haltigen Produkten, die sich aktuell in klinischen Studien befinden [2].

Indikation Evidenzgrad Produkt Firma / Sponsor
Muskelspasmen bei multipler Sklerose Zugelassen Sativex GW Pharmaceuticals
Klinische Phase 2a EHP-101 Emerald Health Pharmaceuticals
Chemotherapie-induzierte Übelkeit und Erbrechen Zugelassen Canemes AOP Orphan Pharmaceuticals
Epilepsie Zugelassen Epidyolex GW Pharmaceuticals
Klinische Phase 2 GelPell Satipharm
Chemotherapie und Tumorbedingte Symptome von Pankreaskarzinom Klinische Phase 3 BX-1 Bionorica
Antitumorale Wirkung Klinische Phase 2a Transvamix Universitätsklinikum Groningen
neonatale Enzephalopathien Klinische Phase 1 GWP42003 GW Pharmaceuticals
Schizophrenie Präklinische Phase Arvisol Echo Pharmaceuticals

94 Prozent des eingenommenen Cannabidiols hat keinen Effekt

Eines wird aus der Tabelle deutlich: Während es sich bei den bereits zugelassenen Produkten um einfache Lösungen der Cannabinoide in Ölen handelt, nimmt die Komplexität der sich in den klinischen Phasen befindenden Produktkandidaten hinsichtlich ihrer Formulierung deutlich zu. Epidyolex beispielsweise besteht aus einer simplen Rezeptur. Sie besteht neben dem Wirkstoff Cannabidiol (CBD) lediglich aus 4 weiteren Komponenten: Sesamöl und Ethanol zum Lösen des CBDs sowie Erdbeer-Aroma und Sucralose für den Geschmack [3]. Dabei ist eine smarte Formulierung bei Cannabinoiden besonders wichtig. Denn nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) beträgt die Bioverfügbarkeit von CBD konventioneller Produkte gerade einmal sechs Prozent [4]. Im Umkehrschluss: 94 Prozent des eingenommenen CBDs werden vom Körper ausgeschieden, ohne jegliche Wirkung zu erzeugen.

Zwar tragen die geringe Wasserlöslichkeit und Stabilität von CBD zu dieser schlechten Bilanz bei, der entscheidende Faktor liegt hier jedoch in dem ausgeprägten First-Pass-Effekt. Unter dem First-Pass-Effekt versteht man die Inaktivierung eines Wirkstoffes durch die Leber. Schluckt man gelöstes CBD, gelangt der Wirkstoff zunächst über die Speiseröhre in den Magen und Darm, von wo aus das CBD in den Blutkreislauf aufgenommen wird. Das nun mit CBD angereicherte Blut wird jedoch nicht direkt durch den Kreislauf im gesamten Körper verteilt, sondern erst einmal zur Leber transportiert. Enzyme wandeln dort das CBD für eine erleichterte Ausscheidung in wasserlösliche Abbauprodukte um. Ein ausgeprägter First-Pass-Effekt führt also dazu, dass ein Wirkstoff noch vor Erreichen seines Ziels zu einem großen Teil enzymatisch verändert und ausgeschieden wird.

Smarte Formulierungen zur Erhöhung der Bioverfügbarkeit

Das Fachgebiet der Pharmazeutischen Technologie beschäftigt sich mit der Entwicklung sogenannter smarter „Drug Delivery Systeme“. Diese modernen Systeme erlauben gegenüber den traditionellen Formulierungen – beispielsweise einer einfachen Lösung von CBD in Öl, eine verbesserte therapeutische Wirkung bei erhöhter Therapiesicherheit. Für CBD eignen sich insbesondere solche Systeme, die die Löslichkeit des CBDs verbessern, die chemische Stabilität erhöhen oder aber den First-Pass-Effekt umgehen. Im Folgenden werden einige Systeme aus der aktuellen Fachliteratur mit ihren Vor- und Nachteilen vorgestellt.

Self-Emulsifying Drug Delivery Systems (SEDDS)

SEDDS wird im Deutschen als „selbstemulgierende Wirkstoffabgabesysteme“ übersetzt. Das Besondere an dieser Technologie ist, dass sie in Kontakt mit wässrigen Flüssigkeiten selbstständig wirkstoffhaltige Öltröpfchen im Nanometerbereich ausbilden. Vergleichbar mit Kandiszucker und Puderzucker, lösen sich Wirkstoffe umso schneller, je kleiner sie sind. Denn dadurch erzeugt man bei gleicher Menge eine deutlich größere Oberfläche.

Das GelPell der Firma Satipharm verwendet diesen Ansatz, wodurch eine 31-34 Prozent höhere Bioverfügbarkeit als auch Löslichkeit des CBDs zu Referenzprodukten erreicht werden konnte [5]. Ein weiterer bekannter Anwender dieser Technologie ist VESIsorb, welche eine 4,4-fache Erhöhung der Maximalkonzentration publiziert hat [6]. Arvisol von der Firma Echo Pharmaceutics arbeitet ebenfalls mit SEDDS und befindet sich in der präklinischen Phase (siehe Tabelle 1), weshalb noch keine Daten zur Bioverfügbarkeit vorliegen.

Nanoemulsionen

Auch bei den Nanoemulsionen setzt man auf die verbesserte Löslichkeit des CBDs durch die enorme Vergrößerung der Oberfläche. Der Unterschied zu den SEDDS ist, dass die Zerkleinerung der Tröpfchen mechanisch und damit kontrolliert erfolgt. So werden Tröpfchen mit Durchmessern im unteren Nanometerbereich von < 50 nm erreicht. Zur Veranschaulichung der Größe: Ein Nanometer verhält sich zu einem Meter wie etwa eine Glasmurmel zur Erde. 

Allgemein gilt: Je kleiner die Tröpfchen sind, desto höher die Bioverfügbarkeit des Wirkstoffes. Bei Tiny Technologies verfolgen wir mit unseren Produkten diesen Ansatz und erzielte mit 50 nm großen CBD Tröpfchen eine bis zu neunfache Steigerung der Bioverfügbarkeit zur marktüblichen öligen CBD-Lösung. Die Ergebnisse aus einer Fallstudie decken sich sehr gut mit den Werten der Fachliteratur [7]. Auch andere Hersteller bieten das CBD als Nanoemulsion an. Jedoch liegen die Größen der Tröpfchen zwischen 250 und 400 nm, weshalb eine geringe Erhöhung der Bioverfügbarkeit anzunehmen ist.

Liposomen

Liposome wurden erstmals 1964 von dem britischen Hämatologen Alec Douglas Bangham beschrieben. Sie sind kleine Kügelchen, deren Hülle aus einer Lipiddoppelschicht besteht, die im Aufbau unserer Zellmembran sehr verwandt ist. Diese Ähnlichkeit ermöglicht es den Liposomen laut Fachliteratur, mit der Zellmembran zu verschmelzen und so Wirkstoffe direkt in die Zelle zu schleusen. Auch wird der Abbau von Wirkstoffen durch den Körper verlangsamt, sodass bei identisch eingenommener Menge, dem Körper effektiv mehr Wirkstoff zur Verfügung steht.

Für die Therapie von Osteoarthritis, einer Form der Gelenkentzündung, wurden CBD-beladene Liposome mit Sonnenblumenlecithin entwickelt. Diese Formulierung wies bei einer Tagesdosis von 20 mg die gleiche Wirksamkeit auf wie 50 mg eine Standard CBD Formulierung [8]. Durch einen liposomalen Formulierungsansatz erreicht man somit eine Steigerung der Wirksamkeit um den Faktor 2,5. Diese Steigerung machen sich Firmen wie Alphavital und Hempamed in ihren Formulierungen zunutze.

Co-Kristallisation

Neben den  oben genannten lipidbasierten Trägersystemen gibt es weitere Ansätze zur Steigerung der Wirksamkeit von Cannabinoiden. So zum Beispiel die Herstellung von Co-Kristallen. Ursprünglich vor fast einem Jahrhundert entdeckt, erleben die Co-Kristalle in jüngster Zeit ein Comeback. Sie stellen nämlich eine sehr attraktive Option zur Erhöhung der Löslichkeit dar. Ein solcher Effekt wird durch die Kombination von zwei oder mehr chemischen Verbindungen erzielt, die einen neuartigen kristallinen Komplex formen.

Artelo Biosciences hat für ihr CBD Co-Kristall ein Patent auf die Zusammensetzung des Co-Kristalls erhalten. Diese Formulierung befindet sich zurzeit in der nicht klinischen Phase der pharmazeutischen Entwicklung für die Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen, entzündlichen Darmerkrankungen, Schlaganfällen und seltenen Krankheiten.

Komplexbildung durch Cyclodextrine 

Cyclodextrine sind sechs bis acht Glukose-Zucker-Bausteine, die kreisförmig miteinander verbunden sind. In den so entstandenen Hohlraum können fettlösliche Wirkstoffe eingearbeitet werden. Der entstehende Komplex wird entsprechend als Wirt-Gast-Komplex bezeichnet, wobei das Cyclodextrin den Wirt und der Wirkstoff den Gast darstellt.

Eine solche Komplexierung erhöht die Löslichkeit und damit die Bioverfügbarkeit des eingearbeiteten Wirkstoffs und wurde daher als eine Möglichkeit erforscht, das fettlösliche CBD für den Körper besser bereitzustellen. Zwei Cyclodextrin-stabilisierte CBD Formulierungen werden derzeit von Medexus Pharmaceuticals und Vireo Health LLC entwickelt. Beide beschreiben zwar, dass durch die erhöhte Löslichkeit die Bioverfügbarkeit drastisch verbessert wird. Bisher wurden jedoch noch keine klinischen Studien mit genau diesen Formulierungen durchgeführt.

Jedes Drug Delivery System besitzt seinen ganz eigenen Charme

Bei den SEDDS, Nanoemulsionen und Liposomen handelt es sich um lipid-basierte flüssige Drug Delivery Systeme. Ein großer Vorteil dieser drei Systeme ist es, dass man sie sublingual einnehmen kann. Das bedeutet konkret, dass die Formulierung unter die Zunge geträufelt und in die Schleimhaut einmassiert wird. Hierdurch umgeht man die Aufnahme über den Magen-Darm-Trakt und folglich auch den First-Pass-Effekt, bei dem ein großer Teil der Cannabinoide inaktiviert wird. Im Vergleich zu herkömmlichen Tabletten und Kapseln können Tropfen zudem individueller dosiert werden und sind auch für Patienten mit Schluckbeschwerden geeignet. Darüber hinaus wird der Wirkstoff vollkommen unabhängig von den Mahlzeiten gleich gut aufgenommen.

Die Co-Kristallisation und Komplexbildung sind für die Einnahme als Tablette oder Kapsel entwickelt und optimiert worden. Der First-Pass-Effekt wird also nicht umgangen. Dennoch bieten diese beiden Drug Delivery Systeme ihre ganz eigenen Vorteile. Aufgrund ihres trockenen Zustands sind sie sowohl chemisch als auch mikrobiell wesentlich stabiler und das Produkt dadurch länger haltbar als die Tropfen. Cannabinoide schmecken darüber hinaus oft bitter. Hier stellen Tabletten einen besonderen Vorteil dar, da sie mit einem geschmacksneutralen Film überzogen werden können. Eine wichtige Funktion, die besonders auch bei anderen Wirkstoffen zum Tragen kommt, wenn der Geschmack kaschiert werden muss. Kapseln hingegen schirmen per se den Kontakt der Zunge mit dem Wirkstoff ab. Auch vermeidet man bei beispielsweise sauren Wirkstoffen eine lokale Reizung der Mundschleimhaut.   

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich sehr vielversprechende Formulierungen für Cannabinoide in der Endphase der Entwicklung befinden. Ihre Wirksamkeit wird durch den Einsatz smarter Verabreichungssysteme um ein Vielfaches ansteigen und eine effektivere Anwendung mit weniger unerwünschten Nebenwirkungen ermöglichen. Es lohnt sich daher, den Kontakt zu Spezialisten in der Formulierungsentwicklung zu suchen, denn sie bieten den Herstellern die einmalige Chance, ihr Produkt qualitativ hervorzuheben. Gleichzeitig bietet es auch Patienten und Kunden einen Mehrwert in Form von höheren Bioverfügbarkeiten und damit einhergehend einer besseren Wirksamkeit.  

Über die Autorin

Dr. Sung-Min Pyo – Innovation für eine gesündere Welt

Sung-Min ist Apothekerin und von der Vision angetrieben, die Welt ein Stück weit gesünder zu machen. Zu diesem Zweck entwickelt sie neue Delivery Systeme, die Wirkstoffe schneller und gezielter in den Körper bringen. Sie ist überzeugt, dass ein Wirkstoff erst dadurch sein volles Potential zur Prävention und Heilung entfaltet. Als Head of Laboratory des Chemie-Giganten BASF SE und Co-Founder und CTO des Start-Ups Tiny Technologies GmbH identifiziert sie hierfür offene Markt- und Patientenbedürfnisse, entwickelt neue Lösungskonzepte und setzt diese in praxisrelevante Produkte um. Sung-Min berät zudem Pharma- und Healthcare-Unternehmen bei strategischen Entscheidungen in der Neuentwicklung. 

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Referenzen:

[1]        Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Geschichte von Cannabis als Arznei- und Rauschmittel.

[2]        EU Clinical Trials Register: https://www.clinicaltrialsregister.eu/

[3]        Europäische Arzneimittel-Agentur: https://www.ema.europa.eu/en/documents/product-information/epidyolex-epar-product-information_de.pdf

[4]        World Health Organization: https://www.who.int/medicines/access/controlled-substances/5.2_CBD.pdf

[5]        Journal of Pharmaceutical Sciences 2018, 107(5), 1423-1429, PTL401, a new formulation based on pro-nano dispersion technology, improves oral cannabinoids bioavailability in healthy volunteers

[6]        Molecules 2019, 24, 2967, A novel self-emulsifying drug delivery system based on VESIsorb formulation technology improving the oral bioavailability of cannabidiol in healthy subjects

[7]    Phytotherapy Research 2020, 34(7), 1696-1703. Evaluation of pharmacokinetics and acute antiinflammatory potential of two oral cannabidiol preparations in healthy adults.

 [8]   Pain 2020, 161(9), 2191. A randomized, double-blind, placebo-controlled study of daily cannabidiol for the treatment of canine osteoarthritis pain.

Disclaimer: Gastbeiträge müssen nicht die Meinung der Redaktion widerspiegeln.

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