Das niederländische Cannabis-Pilotprojekt – Deutschlands Plan B?

Falls die Europäische Kommission ihr Veto einlegt, könnte es einen Ausweg geben.

by Moritz Förster

Mal angenommen die Europäische Kommission stoppt die Legalisierung von Cannabis als Genussmittel in Deutschland – ist das niederländische Pilotprojekt Deutschlands Ausweg aus der Zwickmühle? Als wissenschaftliches Experiment scheint das Projekt im Einklang mit der Single Convention und europäischem Recht zu stehen. Und der Begriff “Pilotprojekt” entpuppt sich beim näheren Blick als irreführend.

Zehn Gemeinden haben sich dem Vorhaben angeschlossen – in sieben Gemeinden verkaufen die Coffee-Shops an alle Konsument:innen, in dreien nur an Bürgerinnen und Bürger mit Wohnsitz in den Niederlanden (“Weed Pass”). Persönliche Daten müssen die Konsument:innen nicht preisgeben. Der wohl größte Haken: 2017 initiiert, haben die Coffee Shops bis dato noch kein Gramm legales Cannabis verkauft. Nichtsdestotrotz setzt Patrick Stevens von Holigram große Hoffnung in das Projekt – und noch mehr hofft er, dass Deutschland den Gesetzesentwurf zur Cannabis-Legalisierung durchkriegt. Patrick ist Teil von einem der zehn Produzenten, die zukünftig legal Cannabis im Rahmen des Pilotprojekts produzieren.

Das niederländische Cannabis-Pilotprojekt – Deutschlands Plan B?

Die Key Facts zum niederländischen Pilotprojekt:

  • 2017 entstand die Idee, den aktuellen Graubereich abzuschaffen. Als Kompromiss einigten sich die Parteien schließlich auf ein Pilotprojekt. Die damit verbundene Frage: Was passiert eigentlich, wenn wir Cannabis komplett legalisieren? Was bedeutet dies für die Gesundheit des Volkes?
  • 2019 wurden die regulatorischen Rahmenbedingungen offiziell verabschiedet. 140 Unternehmen bewarben sich im Anschluss um Lizenzen. Von diesen wurden nach vorheriger Prüfung 40 für ein Losverfahren ausgewählt.
  • Zehn Unternehmen wurden im Dezember 2020 ausgelost, die legal für die Coffee Shops in den zehn Gemeinden Cannabis produzieren sollen. Insgesamt werden 73 Coffee Shops ausschließlich legal produziertes Cannabis vertreiben.
  • Es kam zu massiven Verzögerungen: Die Überprüfung der Kapitalgeber zog sich teilweise eineinhalb Jahre in die Länge. Zudem weigern sich Banken, den Unternehmen Konten bereit zu stellen, Versicherungen verweigern ebenfalls die Zusammenarbeit.
  • Patrick ist guter Dinge, dass im ersten Quartal 2024 erstmals legal produziertes Gras in den Coffee Shops verkauft wird. Die Coffee Shops in den Gemeinden haben dann sechs Wochen Zeit, um das illegal produzierte Gras loszuwerden. Noch 2024 soll zudem ein erstes Zwischenfazit gezogen werden. Insgesamt soll das Experiment vier Jahre laufen.
  • Ein dichtes Track ‘n’ Trace System garantiert, dass kein legal produziertes Gras in den illegalen Markt gerät.
  • Alle Unternehmen agieren Umsatzsteuer befreit. Die meisten Unternehmen produzieren ausschließlich Indoor. Alle Batches müssen von einem unabhängigen Labor geprüft werden, bevor sie in den Handel gelangen.
  • Auf Deutschland hochgerechnet – in Relation zur Bevölkerung – wären es bundesweit 40-50 Gemeinden, in denen Fachgeschäfte im Rahmen eines Pilotprojekts Cannabis verkaufen könnten.
  • Stichwort Eigenanbau: Aktuell droht Menschen die zuhause anbauen, die Kündigung von Mietverträgen und Krediten, falls sie dafür professionelle Hilfsmittel einsetzen. Coffee-Shop-Betreiber werden ihre Häuser gepfändet, wenn sie statt der erlaubten 500 Gramm bei Kontrollen nur geringfügig größere Mengen im Geschäft aufbewahren.
  • Patrick Stevens ist sich sicher: “Europa kann kein Nein mehr sagen.” Bis 2025 geht er davon aus, dass fünf EU-Länder Cannabis legalisiert haben.
  • In den Niederlanden hat die zweite Kammer bereits ein Gesetz zur vollumfänglichen Cannabis-Legalisierung verabschiedet. Patrick ist sicher: Wenn Deutschland legalisiert, folgt die Niederlande zeitnah.

Unsere Diskussion mit Patrick Stevens über:

  • In den Niederlanden läuft die komplett legale Cannabis-Wertschöpfungskette in zehn Gemeinden an – als sozialwissenschaftliches Experiment
  • Wir haben im Sommer 2021 erstmalig über das niederländische Pilotprojekt berichtet. Politisch haben die Niederlande im November 2019 die Grundlage für das Experiment gelegt. Wann geht denn das erste Gramm ganz legal produzierte und vertriebene, staatlich kontrollierte Cannabis über die Ladentheke?
  • Wieso dauert das ganze so lange?
  • Verkauft wird das legal produzierte Cannabis in zehn Gemeinden. Die teilnehmenden Coffee Shops dürfen dann ausschließlich das legal produzierte Cannabis anbieten. Woher weiß ich als Kunde denn, ob das Cannabis nun ganz legal produziert wurde, oder noch vom illegalen Markt stammt?
  • Wer darf denn in den zehn Gemeinden in den legalen Shops des Pilotprojekts unter welchen Bedingungen Cannabis kaufen?
  • Welche Daten müssen die Schops erheben?
  • Da es sich um ein “wissenschaftliches” Pilotprojekt handelt, steht die legale Wertschöpfungskette im Einklang mit der Single Convention und europäischem Recht. Ziel ist, die Effekte eines legalen, kontrollierten Marktes herauszufinden. Auf was für Resultate hofft man denn in der Politik?
  • Bis dato wird der Konsum und der Verkauf in Coffee Shops toleriert. Aber die gesamte Produktion und die Lieferkette ist komplett unreguliert. Karl Lauterbach hat bei der Vorstellung des Eckpunktepapiers nochmal betont: So etwas wie jahrzehntelang in den Niederlanden praktiziert, wird es in Deutschland nicht geben. Wie unzufrieden ist man denn in den Niederlanden mit der aktuellen Lösung, die tatsächlich nichts Ganzes und nichts Halbes ist?
  • Wieso hat man sich 1976 überhaupt dafür entschieden, die Wertschöpfungskette nicht zu regulieren und staatlich zu kontrollieren, sondern nur den Konsum zu tolerieren?
  • Und wie gespannt blickt man aktuell gen Deutschland und gen Brüssel? Anders gefragt: Mal angenommen, die EU gibt der Ampel-Koaliton grünes Licht: Werfen die Niederlande dann ihr Pilotprojekt über den Haufen und machen Tabularasa, sprich: Legalisieren sofort den gesamten Markt?
  • Nun ist aber auch ein anderes Szenario denkbar: Die Kommission schickt dem Gesundheitministerium einen netten Brief, in dem steht: “Lieber Herr Lauterbach, das was Ihnen da vorschwebt, das steht im Widerspruch zu unseren europäischen Verträgen. Bitte sofort damit aufhören.” Bis dato hat unser Gesundheitsminister betont, er setzt ausschließlich auf eine Alles-oder-Nichts-Strategie. Könnte das niederländische Pilotprojekt nicht ein ausgezeichneter Plan B sein?

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